Komplexe Traumatisierung verstehen

Komplexe Traumata, die zu Bindungsproblemen führen drehen sich um zwei Schlüsselfaktoren:

Der erste Faktor ist das unzureichend befriedigte Bedürfnis nach Liebe, Akzeptanz und Anerkennung.

Für ein Kind ist es nicht nur frustrierend, wenn Grundbedürfnisse nicht verläßlich erfüllt werden. Es ist extrem verunsichernd, denn das Kind muß aus unbefriedigten Bedürfnissen den Schluß ziehen, dass mit ihm etwas nicht stimmt, dass es nicht liebenswert ist und sich somit auch nicht sicher fühlen kann.

Der zweite Faktor besteht aus nicht verarbeitetem emotionalem Schmerz.

Wenn ein Kind mit seinen schmerzhaften Gefühlen allein gelassen wird ist es nicht dazu in der Lage sie aufzulösen. Diese Fähigkeit ist nicht angeboren. Es muß sie erst noch entwickeln. Unverarbeiteter Schmerz führt beim Kind zu verschiedenen Anpassungsversuchen.

Komplexe Traumatisierung verstehen / Anpassung

Komplexe Traumata drehen sich also um die Anpassungsversuche, die ein Kind wählt, um sich emotional zu stabilisieren und um Bedürfnisse doch noch befriedigt zu bekommen.

Wenn diese Anpassungsversuche nicht ausreichen, dann spaltet das Kind Eigenschaften oder Aspekte seiner Persönlichkeit, die ihm dabei im Weg stehen ab. Es verdrängt sie, um sein Überleben abzusichern.

In einer ungesunden familiären Umgebung lernt das Kind 11Dinge zu unterdrücken und abzulehnen, die ihm langfristig seine Beziehungsfähigkeit kosten.

Die traurige Realität komplex traumatisierter Menschen lautet: “Ich muß Teile meines Wesens loswerden, um zu überleben.”

Komplexe Traumatisierung verstehen / unbefriedigte Bedürfnisse

Ein Kind möchte authentisch sein und sich zugehörig fühlen. Es versucht sicherzustellen, dass es geliebt, respektiert und gewertschätzt wird.

Da es seine Bedürfnisse noch nicht selbst befriedigen und seine Emotionen noch nicht selbst regulieren kann ist es existenziell auf die Zuwendung seiner Bezugspersonen angewiesen.

Wenn ein Kind unter gesunden familiären Verhältnissen aufwächst bekommt es diese verläßliche Zuwendung: Wenn es sich nicht wohl fühlt darf es seinen Stress ausdrücken. Psychisch gesunde Eltern wenden sich ihrem Kind mitfühlend und wohlwollend zu. Sie helfen ihm dabei Wege zu finden, um sich wieder besser fühlen zu können.

Was aber, wenn das Kind in seiner Not nicht gesehen oder sogar dafür bestraft wird? Wenn es gesagt bekommt, dass es egoistisch ist und nicht so ein Theater machen soll?

Dann potenziert sich das bestehenende Unbehagen. Das Kind glaubt, dass es sich ändern und anpassen muß.

Es wird nach einer Maske (einer Rolle) suchen, die ihm hilft seine Bedürfnisse doch noch befriedigt zu bekommen.

Häufige Rollen, die später Probleme verursachen sind:

Das perfekte Kind (“Wenn ich gut genug bin wird man mir meine Bedürfnisse erfüllen.”)

Der Entertainer (“Wenn man mich mag wird man mir meine Bedürfnisse erfüllen.”)

Das unsichtbare Kind (“Wenn ich keine Bedürfnisse habe wird man mich mögen.”)

Diese Rollen erfordern die Leugnung der eigenen Individualität. Das Kind fühlt sich entsprechend als Imposter (Fake). Aber nicht nur das:

Es verinnerlicht unterbewußt, dass es eine Rolle spielen muß, um geliebt zu werden und dass es sich das Recht auf Liebe erarbeiten muß.

Chronische Scham wird zur treibenden Kraft in seinem Leben.

Manche Kinder finden leider auch über diese Anpassungsversuche keine Lösung.

Wenn ein Kind vergeblich alles mögliche versucht hat, um seine Eltern dazu zu bewegen, sich ihm wohlwollend zuzuwenden, beschließt es spätestens in der Pubertät, dass es nur durch die Verdrängung von Bedürfnissen und Gefühlen, durch Härte und Abschottung seinen Schmerz los werden kann (“Ich brauche niemanden und pfeife auf Liebe und Verständnis.”). Sie werden in ihren erwachsenen Beziehungen selbst zum Täter.

Andere Kinder finden in der Pubertät doch noch eine Form der Anpassung, die ihre Bedürfnisse scheinbar optimal befriedigen kann:

Wenn ein Mädchen bemerkt, dass ihr Äußeres bewundert wird und Aufmerksamkeit erregt schließt es vielleicht daraus:

“Wenn ich flirte und mir für immer meine Schönheit bewahre werden meine Bedürfnisse befriedigt.”

Sie identifiziert sich von nun an über ihr Erscheinungsbild und zwingt sich auf diesem Gebiet zu Perfektion.

>> Frage dich bitte selbst einmal, wie DU dich in der Kindheit angepaßt hast, um dich verbunden zu fühlen und dich dennoch abzugrenzen. <<

KPTBS – Symptome und entsprechende Anpassungsversuche bilden vielleicht auch bei dir einen Schleier, durch den du die Welt und andere Menschen betrachtest. Er könnte aus unterbewußten Programmen bestehen, die heute deine Beziehungen formen und deren Qualität bestimmen.

Komplexe Traumatisierung / ungelöster Schmerz

Ein Kind hat den natürlichen Instinkt, sich zu öffnen, zu vertrauen, authentisch zu sein, zu lieben, zu weinen, zu teilen und sich mit anderen zu verbinden.

Wenn es durch Trauma dazu gezwungen wird diese gesunden Instinkte zu unterdrücken opfert es schleichend seine Menschlichkeit, um körperlich zu überleben.

“Komplexes Trauma betrifft nicht nur das Feststecken in der Vergangenheit, sonder auch das im Jetzt nicht ganz lebendig sein.”

– Bessel van der Kolk –

Traumatisierte Menschen leben nicht – sie existieren, weil sie Teile ihres Selbst zerstört haben, um physisch zu überleben.

Komplexe Traumatisierung / Soul Murder

Nun zu den 11Dingen, die komplex traumatisierte Kinder aufgegeben haben, um zu überleben:

1) Alarmsystem:

Wenn die Eltern deiner kindlichen Intuition oft widersprochen haben hast du ihr irgendwann nicht mehr vertraut. Du hast gelernt sie zu ignorieren.

Inzwischen spürst du sie vielleicht gar nicht mehr. Heute neigst du vielleicht dazu in Beziehungen zurückzukehren, in der du mißbraucht wurdest. Damit wiederholst du unterbewußt dein altes Trauma.

Vielleicht hast du gelernt, dass du dich nur mit Lügen in Sicherheit bringen kannst. Dazu mußt du dein Gewissen abspalten. Du tust es, denn das Hören auf dein Gewissen hat emotionale Not immer nur verschlimmert. Also wirst du hart und läßt dein Gewissen nicht mehr sprechen.

Emotionen sind dein inneres Navigationssystem. Sie geben dir Rückmeldung darüber, was gerade um dich herum passiert. Bei Gefahr sagt dir deine Angst, dass du dich zur Wehr setzen oder “verschwinden” mußt.

Wenn sich in der Kindheit negative Gefühle oft ungelöst angehäuft haben und zu unlösbarem Schmerz wurden, dann sagt dir dein Unterbewußtsein heute vielleicht:

“Unterdrücke deine Gefühle, denn sie führen nur zu unerträglichem Elend.”

Bsp.: Wenn dein Vater dich für etwas getadelt hat, wofür du gar nichts konntest, warst du vielleicht wütend darüber, aber keiner hat sich für diese Ungerechtigkeit interessiert. Im Gegenteil: Dein Ärger wurde bestraft. Du hast begonnen zu weinen und wurdest dafür beschämt und auf dein Zimmer geschickt.

Wenn du als Erwachsener kein Alarmsystem mehr hast, dann darfst du auch keine Schwäche mehr zeigen. Verletzlichkeit scheint dich aber schwach zu machen. Also kannst du weder weinen, noch Furcht zeigen oder dich jemandem liebevoll zuwenden. Und: Ohne Alarmsystem läufst du Gefahr dich erneut zu traumatisieren.

2) Authentizität:

Wenn dein angeborenes kindliches Bedürfnis nach Verbundenheit frustriert wird, dann schließt du daraus, dass dein authentisches Sein der Grund dafür ist, dass du zurückgewiesen wirst. Authentizität gefährdet also deine Sicherheit. Du schlussfolgerst also:

“Wenn ich mich verbunden fühlen will muß ich meine Authentizität opfern.” / “Ich muß etwas anderes sein und werde mir eine geeignete Rolle suchen.”

Bsp.: Die Botschaft deiner Eltern war “Du hast zu lächeln und zu demonstrieren, dass du glücklich bist.”. Vielleicht wurdest du wiederholt aufgefordert ein fröhliches Gesicht zu machen. Unter Umstände sogar mit dem Nachsatz: “Sonst gebe ich dir etwas, worüber du traurig sein kannst.” Dann hast du dich vielleicht dafür gehaßt “so sensibel und weinerlich” oder so introvertiert zu sein.

3) Intimität:

Inauthentizität macht echte Verbundenheit unmöglich. Wenn ich mein Alarmsystem und mein authentisches Sein aufgegeben habe und oft genug in meinem Bemühen um Verbundenheit frustriert wurde, dann ziehe ich irgendwann den Schluß: “Wer braucht schon Bindung und enge Beziehungen?” Ich kann sexuelle und unverbindliche Beziehungen haben und ich kann mich in Fantasien flüchten. Aber ich werde mich nicht öffnen und verletzlich machen. Die Folge ist aber auch:

“Wenn ich so defekt bin, dass sich keiner mit mir verbunden fühlen will, dann werde ich mich auch von mir abwenden.”

Jede Beziehung mit Tiefe und Bedeutung wird so unmöglich.

4) Vertrauen:

Ein Kind kommt abhängig und mit bedingungslosem Vertrauen auf die Welt. Es vertraut dir, wenn du sagst, dass es vom Dach springen soll, weil du es auffangen wirst.

Aber was passiert, wenn das Kind wiederholt enttäuscht wird? Zunächst wirde es glauben, dass es seine Schuld gewesen ist. Es wird versuchen sich anders zu verhalten, aber wenn sein Vertrauen dennoch wiederholt enttäuscht wird, dann gibt es irgendwann die Hoffnung auf und schlußfolgert: “Menschen sind nicht vertrauenswürdig.” Denn Vertrauen heißt Schmerz.

Authentizität, Intimität und Vertrauen sind die Grundlage jeder gesunden Beziehung. Diese drei essenziell wichtigen Voraussetzungen werden durch komplexe Traumata zerstört.

5) Wahrheit:

In manchen Familien mündet das Aussprechen der Wahrheit in Bestrafung. Unangenehme Themen sind tabu und deren Verdrängung wird zur Normalität. Wenn kein Erwachsener in der Familie für Offenheit sorgt und sich jeder weigert, über Geschehnisse unverblümt zu sprechen ist das Kind einer verzerrten Realität (Gaslighting) ausgesetzt.

Später wird es anfällig für toxische Beziehungen sein und narzisstische Partner attraktiv finden. Oft gibt es in dysfunktionalen Familienverbänden Geheimnisse, Ungerechtigkeit und Betrug, sodass die Botschaft ans Kind ist: “Die Wahrheit ist irrelevant. Wir leben die Lüge.”

Es lernt so nicht nur andere sondern auch sich selbst zu belügen: Wahrheiten, wie “Meine Familie ist eine Katastrophe.”, “Mein Vater ist cholerisch.” und “Meine Mutter hat keine Zeit für mich.” sind zu schmerzhaft. Es flüchtet sich lieber in eine Fantasiewelt, in der alle glücklich und zufrieden sind.

6) Bedürfnisse:

Wenn ein Kind mit nicht befriedigten Bedürfnissen lebt beschließt es vielleicht selbst keine zu haben und anderen zu dienen. Es opfert sich auf und glaubt so zufriedener zu werden. Doch die Leere, der Schmerz und die Einsamkeit sind im Inneren immer da. Es weiß später als Erwachsener nicht einmal mehr, was es braucht.

7) Empathie:

Wenn das Trauma massiv ist, dann wird Mitgefühl oft negativ verkoppelt. Unterbewußt bedeutet Empathie Schwäche und sie löst Schamgefühle aus. Die Überzeugung ist: “Menschen werden meine Schwäche ausnutzen und mich verletzen.”

Zwei häufige Zeichen, dass Empathie in einem Kind zerstört wurde ist Destruktivität in Bezug auf das Eigentum anderer oder Grausamkeit gegenüber Tieren. Es gibt aber auch Menschen, die Tiere vergöttern und nur ihren Artgenossen gegenüber völlig kalt sind. Bitterkeit und Aggression nehmen den ursprünglichen Platz von Mitgefühl ein.

8) Kreativität:

Du kannst nicht kreativ sein, wenn du dich im Überlebensmodus befindest. Dein Gehirn konzentriert sich komplett auf das Scannen der Umgebung und das Fällen von Entscheidungen, um Gefahren zu vermeiden. Kreativität ist nicht überlebensnotwendig und kann geopfert werden. Du hast keine Zeit Hobbies auszuprobieren und zu relaxen. Träume wirst du nicht als Tool für kreative Impulse nutzen sondern als Fluchtmechanismus, um einer schmerzhaften Realität zu entkommen.

9) Spiritualität:

Wenn dein Vater unter Alkoholeinfluß gewalttätig wurde und du eine höhere Macht umsonst darum gebeten hast das zu stoppen, dann hast du vielleicht abgewunken und jeglichen Glauben an eine bessere Welt verloren.

10) Hoffnung:

Wenn du jede Option ausprobiert hast, um den Schmerz des nicht gesehen werdens loszuwerden, aber keine hat funktioniert, dann stellt sich wahrscheinlich Hoffnungs- und Hilflosigkeit ein. Du verinnerlichst vielleicht die Überzeugung: “Hoffe nie wieder auf ein besseres Ergebnis, wenn du nicht enttäuscht werden willst.”

Ein Kind hat eine hohe Kapazität dafür sich anzupassen und weiter auf ein gutes Ende zu hoffen. Es hofft vielleicht über Jahre, aber irgendwann wird es aufgeben, weil es erkennt: “Ich werde jedes mal wieder verletzt und zusätzlich wird meine Hoffnung zerstört.” Die Zerstörung der Hoffnung ist ebenso schmerzhaft, wie die Verletzung. Also beschließt es die Hoffnung ein für allemal aufzugeben.

Wenn du als Erwachsener tatsächlich einmal eine Beziehung mit einem emotional gesunden Partner eingehen solltest, dann springt diese innere Überzeugung an: “Ich werde keinesfalls auf ein gutes Ergebnis hoffen.” Alsowirst du unterbewußt die Beziehung sabotieren und zerstören.

11) Träume:

Träume sind ein essenzieller Teil der Kindheit. Aber komplexe Traumatisierungen töten schleichend jeden Traum. Die dabei entstehenden Kollateralschäden sind groß:

Du verlierst deine Unschuld, dein Selbstvertrauen und deine Vitalität und wirst aus dem Hier und Jetzt verbannt.

Traumata nehmen dir nicht nur deine Freude und deinen inneren Frieden. Durch chronische Schamgefühle verlierst du deine Identität und deinen Selbstrespekt. Du siehst dich als Opfer, weil du dich hilflos fühlst und neigst vielleicht dazu gegen jede Form von Autorität zu rebellieren.

Komplexe Traumatisierung / Heilung

Heilung ist ein langsamer gradueller Prozeß, in dem du dir deine Menschlichkeit zurück eroberst.

Dieser Prozeß bringt wieder Leben in deine Gefühlswelt. Dein Alarmsystems und deine Intuition werden reaktiviert.

Du lernst wieder in dich selbst und andere zu vertrauen, dich mit anderen zu verbinden und dich authentisch zu zeigen. Das geschieht natürlich nicht über Nacht.

Deine inneren Stimmen werden zunächst widerstreben, dich warnen wollen, um dich zurück in deine Komfortzone zu holen. Sie werden sagen: “Geh da nicht hin. Du wirst verletzt werden!”.

Dann geht es darum zu erkennen, dass es naive Stimmen sind, die es zwar gut mit dir meinen, aber nicht wissen, dass du heute in keiner Abhängigkeit mehr bist:

Heute kannst du Grenzen setzen, deine Bedürfnisse äußern und mit deinen Gefühlen anders umgehen, ohne dafür bestraft zu werden.

Du kannst die Kontrolle über dein Leben an dich nehmen und es nach deinen Wünschen und Bedürfnissen gestalten. Du bist nicht mehr das hilflose Kind von damals.

Im Heilungsprozeß lernst du deine Gefühle anzunehmen und zu regulieren und dich im Hier und Jetzt wieder lebendig zu fühlen.

Wenn du keine Geheimnisse mehr vor dir selbst haben mußt, dann wird es dir immer leichter fallen gute Entscheidungen zu treffen, für sie einzustehen und Verantwortung zu übernehmen.

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