Autonomie und Abhängigkeit

In diesem Artikel möchte ich zwei Fragen genauer betrachten:

Schließen sich Autonomie und Abhängigkeit gegenseitig aus? Und ist das Eine besser als das Andere?

Die Wertung „Autonomie ist erstrebenswert und Abhängigkeit ist schlecht.“ setzt sich zumindest gesellschaftlich  ganz klar immer mehr durch.

Autonomie und Abhängigkeit – Das Modell der Autonomie

Auch in spirituellen Kreisen wird materielle, mentale und emotionale Unabhängigkeit inzwischen stark propagiert. Der Grundtenor ist plausibel. Er lautet:

Übernimm Verantwortung für dich, dein Leben und deine Bedürfnisse. Alles was du brauchst kannst du für dich selbst bereit stellen. Glück und Liebe sollten von innen heraus wachsen und nicht davon abhängig sein, was ein anderer tut oder unterlässt. Dein Wohlbefinden darf nicht in der Hand eines anderen Menschen liegen. Es liegt allein in deiner Verantwortung. Jeder Mensch muß für sich selbst sorgen. Er sollte lernen sich emotional von anderen abzugrenzen, damit er von ihnen unbeeindruckt bleibt.

Nach diesem Modell ist es ein Zeichen des Mangels, wenn ein Mensch physisch und emotional nicht komplett unabhängig von anderen ist. Es ist Ausdruck von Schwäche, von Verstrickung und co-abhängigem Verhalten.

Die Nähe zu anderen Menschen und der Wunsch nach Bindung ist ein menschliches Grundbedürfnis, das einen bitteren Beigeschmack bekommen könnte. Gerade Begriffe wie „Dependent Personality Disorder“ legen nahe, dass Abhängigkeit krankhaft ist.

Diese Weltsicht könnte uns suggerieren, dass es nicht angebracht ist, andere um etwas zu bitten und sich Unterstützung zu holen. Sie könnte so interpretiert werden, dass es ein Fehler ist sich auf andere zu verlassen oder sich auf irgendeine Art und Weise in Abhängigkeiten zu begeben. Andere Menschen zu brauchen könnte ins co-abhängige Licht rutschen.

Autonomie und Abhängigkeit –  biologische Sicht

Aus biologischer Sicht ist Abhängigkeit ein Fakt und keine Option. Wir sind von den Ressourcen unserer Erde abhängig und wir sind abhängig von Beziehungen zu anderen Menschen.

Wenn wir eine Bindung zu einem anderen Menschen eingehen, dann formen wir mit ihm eine physiologische Einheit: Wissenschaftliche Studien belegen, dass die Nähe eines vertrauten Partners einen Einfluss auf unsere Herzfrequenz, unsere Atemfrequenz und die Höhe der Ausschüttung bestimmter Hormone im Blut hat.

Die Anwesenheit eines vertrauten Menschen hat Einfluss auf unsere Stress-Antwort. Das Gefühl isoliert zu sein wird durch die Bindung an einen anderen Menschen auf der biologischen Ebene reduziert. Diese Verminderung des Gefühls getrennt zu sein reflektiert, dass wir durch Verbundenheit mit anderen näher an das Verständnis und Erleben des miteinander Eins Seins (im gesunden) kommen.

Autonomie und Abhängigkeit – psychologische Sicht

Es gibt ein Abhängigkeits-Paradoxon: Wenn es in unserem Leben einen Menschen gibt, auf den wir uns verlassen können, dann werden wir scheinbar paradoxerweise (?) unabhängiger. Das ist schon bei Kleinkindern gut zu beobachten:

Wenn eine Mutter ihr Kind in einem fremden Raum auf den Boden setzt wird es durch den Raum krabbeln, ihn erkunden, vielleicht nach Spielzeug greifen und sich in der neuen Umgebung eigenständig bewegen.

Verlässt die Mutter den Raum und schließt vielleicht sogar die Tür wird es das, was es tut unterbrechen und unruhig werden.

Es wird – im Versuch wieder Kontakt aufzunehmen – nach der Mutter rufen und vielleicht weinen. Sobald die Mutter zurück ist wird es sich mit ihr verbinden, um dann weiter seine Umgebung zu erforschen. In erwachsenen Beziehungen ist das nicht anders.

Für die Entwicklung einer gesunden Psyche ist es wichtig, dass das Kind seinen Separations- und Individuationsprozess reibungslos durchlaufen kann. Autonomie und Abhängigkeit schließen sich dann nämlich nicht mehr aus:

Wenn wir in der Kindheit die Erfahrung gemacht haben, dass es jemanden gibt, der uns unterstützt, der uns beisteht und auf den wir zählen können, dann wächst unsere Fähigkeit auf selbstbestimmte Art und Weise auf’s Leben zu zu gehen.

Später werden wir uns in der Beziehung zu einem Partner sicher fühlen und wissen, dass wir uns auf ihn verlassen können. Das läßt uns wiederum Risiko freudiger werden. Wir können unsere Ziele mutiger verfolgen. Auch unsere Kreativität profitiert davon, wenn wir auf einen anderen Menschen bauen können.

Autonomie und Abhängigkeit – Entstehung des Modells der Autonomie

Das Modell der Autonomie entspringt zum Teil dem unterbewussten Schmerz von Menschen, deren Bedürfnisse durch andere nie befriedigt wurden.

Der Begriff der Selbsthilfe resultiert aus diesem Vertrauensverlust in andere. Glaubenssätze, wie „Ich kann mich nicht auf andere verlassen.“ oder „Ich muss für mich selbst sorgen.“ sind der Nährboden dafür.

Viele Menschen neigen dazu in spirituellen Kreisen Trost zu suchen, wenn Trost in der physischen Realität (in Beziehungen zu anderen Menschen) nicht vorhanden ist.

Der Glaube, dass meine Bedürfnisse nicht durch andere befriedigt werden können entsteht, wenn ich diese Erfahrung in meinem Leben nie machen durfte. Dann glaube ich mein Überleben nur absichern zu können, wenn ich mich von anderen abgrenze, mich nach innen richte und in jeder Hinsicht unabhängig bin.

Das bringt jedoch die Verleugnung und Verdrängung eines Grundbedürfnisses mit sich. Nach außen hin wirkt ein solcher Mensch unabhängig und selbstsicher. Er erweckt den Eindruck ein hohes Maß an Selbstvertrauen zu haben.

Aber zwischen Selbstvertrauen und dem Misstrauen anderen Menschen gegenüber besteht ein gewaltiger Unterschied.

Autonomie und Abhängigkeit – Folgen des Modells der Autonomie

Das Modell der Autonomie birgt die Gefahr in sich, dass Menschen damit ihre Aversion gegen jede Form von Abhängigkeit von anderen Menschen rechtfertigen.

Sie umgehen unbewusst den Schmerz und die Trauer darüber, dass sie die Erfahrung von Unterstützung und Verlässlichkeit anderer nie machen durften und werden blind dafür, dass es eine gesunde wechselseitige Abhängigkeit (Inter-Dependence) gibt.

Sie würden dann das größere Bild nicht mehr sehen:

Das Universum konfrontiert uns immer wieder mit Möglichkeiten, die Beziehung zu uns selbst und anderen zu heilen. Beziehungen spiegeln uns ungelösten Schmerz . Komplette Abgrenzung und unabhängige Selbstfürsorge führen nicht zur Heilung, denn was uns im Beziehungskontext verletzt hat braucht es auch um komplett zu heilen.

Umgekehrt besteht für Menschen, die in der Kindheit gelernt haben, dass sie sich auf sich selbst nicht verlassen können die Gefahr, dass sie mit diesem Modell eine Rechtfertigung dafür finden, ihre Eigenständigkeit an spirituelle Führer und Gurus abzugeben.

Sie haben sich selbst verlassen und unbewußt auf der Suche nach jemandem, der sie ganz macht. Der einzige Weg zu überleben besteht für sie darin, sich an andere zu klammern und mit ihnen zu verschmelzen. So können sie sich weiterhin selbst aus dem Weg gehen und das bekommen sie dann zwangsläufig in ihren Beziehungen gespiegelt.

Unsere Beziehungen –  die Art und Weise wie wir uns in ihnen fühlen – sind eine Reflexion unserer Beziehung zu uns selbst.

Wenn wir glauben uns nicht auf uns selbst verlassen zu können, wird uns das Leben Situationen bescheren, wo uns das gespiegelt wird:

Wir werden uns tatsächlich nicht auf andere verlassen können und immer wieder enttäuscht werden.

Wenn wir die Zusammenhänge weiterhin nicht sehen wollen, dann wird uns das Leben letztlich dazu zwingen. Die Lebensumstände werden sich zuspitzen und der daraus resultierende Schmerz wird uns dazu zwingen, für uns selbst da zu sein.

Wir werden mit Situationen konfrontiert werden, wo das die einzige Option sein wird, die uns bleibt.

Die eigenen Traumata anzuschauen und zu heilen erfordert Mut. Warte damit besser nicht solange, bis du mit dem Rücken an der Wand stehst und keine Wahl mehr hast.

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