Bedingungslose Liebe und Realität

Bedingungslose Liebe – was ist das?

Ich liebe dich unabhängig davon, was du tust oder unterlässt, wie du dich verhältst und wofür oder wogegen du dich entscheidest.

Das ist die Quintessenz bedingungsloser Liebe. Objektiv betrachtet existiert diese Form von Liebe in unserem irdischen Leben im günstigsten Fall zwischen Eltern und ihrem Kind. Die meisten Menschen tragen eine (in der Kindheit unbefriedigte) Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe in sich. Sie wollen von anderen bedingungslos geliebt und angenommen werden, unabhängig davon, was sie tun, wer sie sind oder nicht sind. Sie haben sich immer bedingt geliebt, angenommen und gewertschätzt gefühlt. Liebe war und ist für die meisten Menschen an Erwartungen geknüpft. Sie wird ihnen nur für ein entsprechendes Verhalten gewährt. Sie fühlen sich für etwas, was sie tun geliebt – nicht für sich selbst.

Wir fühlen uns geliebt, wenn wir “gut” und erfolgreich sind. Wenn wir das tun, was andere von uns erwarten, werden wir gewertschätzt und anerkannt.

Die Idee der bedingungslosen Liebe klingt für Menschen mit dieser Prägung verlockend. Sie entspricht ihrer tiefen Sehnsucht für das, was man ist, angenommen und akzeptiert zu werden. Bedingungslose Liebe ist deshalb ein Aspekt zahlreicher spiritueller Philosophien und wir erleben, was das betrifft, gerade einen regelrechten Boom. Dennoch hat sie auch ihre Schattenseiten, und die wollen wir uns jetzt anschauen.

Bedingungslose Liebe – Beziehung ohne Konsequenzen

Wenn wir von bedingungsloser Liebe sprechen, dann haben wir das Bild einer Beziehung ohne Konsequenzen im Kopf. Wir denken an eine Beziehung, in der wir von unserem Partner – unabhängig davon, was wir tun oder unterlassen – gewertschätzt, angenommen und geliebt werden.

Bedingungslose Liebe impliziert die Vorstellung von einer Beziehung ohne Schmerz durch Konflikte und ohne die potenzielle Gefahr, vom Partner verlassen zu werden.

Was wir dabei komplett vernachlässigen ist, dass wir in einer physischen Welt leben, die auf dem Gesetz von Ursache und Wirkung beruht. Wir ignorieren damit dieses Naturgesetz und blenden es aus. Ist es tatsächlich möglich und sinnvoll für das, was wir tun oder unterlassen keine Konsequenzen zu erwarten?

Bedingungslosigkeit könnte man auch mit Gleichgültigkeit und Desinteresse in Verbindung bringen. Weiterentwicklung und ein gegenseitiges Herausfordern, um zur besten Version von sich selbst zu werden, wird damit jedenfalls nicht angeregt.

Wenn wir bedingungslos geliebt werden möchten, dann sprechen wir nicht von Liebe. Wir sprechen von der Sehnsucht nach einem Gefühl – dem Gefühl, von jemandem “ohne wenn und aber gewollt” zu werden. Es ist ein Gefühl, was viele von uns in der Kindheit schmerzlich vermisst haben.

Wahre Liebe entfaltet sich, wenn wir den Partner als Teil von uns selbst empfinden. Die Wünsche, Bedürfnisse und Visionen beider sind uns dann gleich wichtig. Daraus erwächst die intrinsische Motivation, die eigenen Bedürfnisse und die des Partners in gleicher Weise erfüllen zu wollen und ihnen gerecht zu werden. Der Schmerz des Partners ist so auch unser Schmerz, und wir sind bestrebt ihn aufzulösen.

Bedingungslose Liebe und Inkompatibilität

Inkompatibilität (durch sich widersprechende Wertesysteme, gegensätzliche Bedürfnisse, Ziele und Wünsche) macht eine langfristig glückliche harmonische Beziehung unmöglich. Inkompatibilität führt dazu, dass die Bedürfnisse des einen Partners zwangsläufig auf Kosten des anderen befriedigt werden. Man kommt nicht umhin, sich die eigenen Bedingungen für eine Beziehung bewusst zu machen, sie zu kennen und sie ohne Schuldgefühle anzunehmen.

Wenn sich zwei Menschen ineinander verlieben und die Werte des einen darin bestehen, so naturnah und einfach wie möglich zu leben, der andere aber ehrgeizige Entwicklungsziele verfolgt und unbedingt materiellen Wohlstand erreichen will, dann werden beide in der Beziehung zwangsläufig chronisch leiden. Beide werden sich bald nur noch bedingt geliebt fühlen. Der Druck, die Klagen und die Unzufriedenheit des anderen erzeugen ein altbekanntes Gefühl – das Gefühl, so wie man ist, “nicht richtig” zu sein. Damit werden die alten Verletzungsebenen erneut bedient und zementiert. Wenn wir uns durch die Werte des Partners von den eigenen Werten entfernen, dann ist es unmöglich in dieser Beziehung dauerhaft glücklich zu sein. Wir empfinden chronischen Schmerz und sind nicht mehr dazu in der Lage, unser Gegenüber wertzuschätzen, zu lieben und uns mit ihm wirklich gut zu fühlen. Wenn an dieser Stelle einer der beiden Partner um des Erhalts der Beziehung Willen in den Verzicht geht und seine Bedürfnisse vernachlässigt, dann verhindert er zwar die physische Trennung, begibt sich aber auf den Weg eines Gefühlstods auf Raten. Seine Bedürfnisse verschwinden nicht einfach, wenn er sie zu verleugnen beginnt. Sie fristen dann nur ein Schattendasein und das Unterbewusstsein wird die Kontrolle über die Art und Weise der Befriedigung dieser Bedürfnisse übernehmen (müssen). Letztlich bedeutet das also die Abgabe der Kontrolle über unser Leben an unterbewusste Prozesse.

Bedingungslose Liebe in der intimen Beziehung

Eine ernüchternde Erkenntnis ist die, dass wir in unserer romantischen Paarbeziehung am wenigsten mit bedingungsloser Liebe rechnen können. Das ist so, weil unser Partner derjenige ist, der am meisten von unserem “so sein oder nicht sein”, von unserem Tun oder unserem Unterlassen, von unseren Aktivitäten oder unseren Rückzügen, betroffen sein wird. Auf Distanz ist Bedingungslosigkeit einfacher. Menschen mit Beziehungsproblemen kommen durchaus gut mit einem Therapeuten zurecht. Warum? Egal was die Klienten im Gespräch äussern, ein Therapeut wird nicht wütend werden, er wird sich nicht abwertend äussern, er wird bedingungslos weiter Anerkennung zeigen und den Kontakt aufrecht erhalten. Das kann er nur, weil er von den Verhaltensweisen seiner Patienten nicht direkt und hautnah betroffen ist.

Intime Beziehungen gelingen nur, wenn wir unsere Energie auch in schwierigen Situationen in sie hinein investieren. An eine Beziehung sind so zwangsläufig Erwartungen geknüpft, die auch einen gewissen Druck mit sich bringen. Je kompatibler die Partner sind, desto leichter ist es und desto weniger wird es sich wie Druck anfühlen. Wenn wir uns also eine Beziehung wünschen, die sich unbeschwert, angenehm und sicher anfühlt, dann tun wir sehr gut daran, uns einen möglichst passenden Partner zu suchen. Kompatibilität führt dazu, dass die Dinge, die wir tun und die Art, wie wir sind, einen Gewinn für unseren Partner darstellen, statt den Verlust seiner eigenen Werte.

Die Behauptung, dass wahre Liebe keine Beziehung ohne Druck und Erwartungen impliziert, führt bei vielen Menschen zu starken Widerständen. Denn sie glauben, dass das Gegenteil für sie stimmiger ist: Sie denken, eine Beziehung ohne Druck und Erwartungen ist sicher, leicht und spannungsfrei. Sie glauben, so fühlt es sich gut an. Es ist jedoch ein Mythos. Und diesem Mythos laufen wir aufgrund der tiefen, in uns schlummernden Ur-Wunde von “Ich bin falsch und schlecht und deshalb muss ich mich ändern.” weiter hinterher.

“Ich möchte geliebt werden für das, was ich bin.”

Wenn wir diese Überzeugung vertreten, dann sollten wir uns fragen:

Was bedeutet “das, was ich bin” genau? Was bin ich? Bin ich die Dinge, die ich tue? Bin ich das, was ich denke? Bin ich das, was ich sage? Bin ich mein Verhalten, meine Wünsche, meine Ziele? Bin ich eins dieser Dinge oder all das? Was ist es genau, was Menschen lieben und annehmen sollen, wie es ist?

Wenn wir darauf eine Antwort gefunden haben, dann wäre es sinnvoll, bei der Wahl eines Partners darauf zu achten, dass er zu dem, was wir sind, kompatibel ist. Wir suchen nicht wirklich nach einer Beziehung ohne Bedingungen, denn wir sind selbst nicht dazu in der Lage, unserem Partner gegenüber bedingungslos zu sein. Wir stellen Bedingungen auf, wenn wir nicht betrogen und missbraucht werden wollen. Wir stellen Bedingungen auf, wenn wir möchten, dass unser Partner unsere Wünsche und Bedürfnisse beachtet. Ein Mensch, der behauptet bedingungslos zu lieben muss Willens sein, sich in einer Beziehung aufzugeben, für sie unter Umständen chronisch zu leiden und auch wenn es ihm schlecht geht zu bleiben.

Beziehung und Bedingungen

Wir haben Bedingungen für jede Beziehungskonstellation (Therapeut – Patient / Geschäft / Eltern – Kind / Freundschaft / Geschwister / Intimbeziehung). Das sollten wir akzeptieren und auf keinen Fall verdrängen.

Letztlich suchen wir nach einem intimen Partner, dessen Bedingungen für eine Beziehung den Bedingungen, die wir für eine Beziehung haben, ähneln. Oder anders gesagt – wir brauchen einen Partner, mit dessen Bedingungen wir uns okay fühlen und umgekehrt. Das ist viel näher an der Realität und dem Konzept von wahrer Liebe (die erfordert, den anderen als Teil von sich selbst anzunehmen), als das Mythos der Bedingungslosigkeit. Für reale zwischenmenschliche Beziehungen ist es einfach nicht tauglich.

Das universelle Konzept bedingungsloser Liebe

Universell gesehen ist Liebe bedingungslos, weil alles eins ist. Ob wir es als solches wahrnehmen oder nicht, wir sind alle Teil voneinander und eines grossen Ganzen. Universell gesehen gibt es auch keine Möglichkeit der Trennung, selbst wenn wir unsere physischen Körper als getrennt erleben. Wir können uns nicht von diesem Universum distanzieren. Menschen, die schon einmal Nah-Tod-Erfahrungen hatten beschreiben in der Regel ein Gefühl bedingungsloser Liebe und Annahme erlebt zu haben. Das universelle Konzept bedingungsloser Liebe ist aber nicht auf unsere physische Realität übertragbar.

Ist Bedingungslosigkeit eine Tugend?

In unserer Gesellschaft wird uns Bedingungslosigkeit oft als eine erstrebenswerte Tugend verkauft. Keine Bedingungen zu haben wird mit “gut sein” gleichgesetzt. Und so kommt es zustande, dass unser Ego das Konzept der Bedingungslosigkeit recht interessant findet, auch wenn sie tatsächlich in der physischen Realität nicht existiert. Wenn wir unser Ego von diesem Konzept nicht los lösen können, dann werden wir uns für Bedingungen schämen, die wir an eine Beziehung haben. Das verringert die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie uns selbst und anderen gegenüber zugeben und äussern. Uns wird auch vermittelt, dass bestimmte Bedingungen okay sind und andere nicht. Wenn wir aber eine Bedingung mit Schamgefühlen belegen, dann ist sie immernoch da. Wir verdrängen sie ins Unterbewusstsein und leugnen ihre Existenz. So kommt es, dass wir überzeugt aussprechen, zu unserem Partner zu stehen, uns daran aber nicht mehr erinnern, wenn die verdrängte Bedingung in der Beziehung nicht mehr erfüllt wird.

Wenn wir uns zu bestimmten Bedingungen in einer Beziehung bekennen, dann setzen wir uns zunehmend dem Risiko aus, von anderen dafür abgelehnt zu werden. Und von anderen Menschen als schlecht gesehen zu werden re-triggert die Ur-Wunde von “Du bist falsch und schlecht. Deshalb musst du dich ändern.” So sind wir der Versuchung erneut ausgesetzt, dem Mythos glauben zu wollen, dass wir einfach nur eine bedingungslose Beziehung möchten, die sich sicher, entspannt und gut anfühlt …

Das Buch ist auch im tredition SHOP erhältlich (lieferbar)

Buch kaufen