Bindungsverhalten und Gesellschaft

Unser individuelles Bindungsverhalten beeinflußt natürlich auch die gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir leben.

Wenn wir unsere wachsenden gesellschaftlichen Probleme lösen wollen, werden wir der Heilung unsicherer Bindungsmuster endlich mehr Beachtung schenken müssen.

Denn die destruktiven Entwicklungen, die wir beobachten sind nur ein Spiegel der gestörten Bindungsfähigkeit und mangelnden Empathie vieler einzelner Individuen.

Wir beobachten gerade zwei Phänomene gleichzeitig:

Die Zahl derer, die sich ihrer alten Konditionierungen bewusst werden wächst täglich. Menschen erwachen aus ihren limitierenden Mustern in einem Ausmaß, wie noch nie in der Geschichte der Menschheit.

Auf der anderen Seite häufen sich scheinbar unlösbare Konflikte. Kindliches Schwarz-Weiß-Denken vertieft die Gräben zwischen politischen Gruppierungen, sodaß die Kriegsgefahr zunimmt. In der Psychologie nennen wir diesen infantilen Abwehrmechanismus, der bei erwachsenen von emotionaler Unreife zeugt Splitting.

Auch wenn es geradezu paradox erscheint: Es wird schlimmer und besser zur selben Zeit.

Wenn wir den Irrsinn als Irrsinn erkennen (unseren eigenen und den im gesellschaftlichen Kontext), dann haben wir schon eine neue Ebene des Bewusstseins erreicht.

Bindungsverhalten und das alte Bewusstsein

Beziehungen kranken, wenn wir uns mit unseren Gedanken gleichsetzen und sie für bare Münze nehmen.

Ein Mensch mit unsicherem Bindungsverhalten tut genau das: Er hält seine Gedanken für einen Spiegel der Realität und je stärker bindungstraumatisiert er ist, desto destruktiver sind seine Gedankenmuster. Desto weniger fühlt er sich mit seiner Umwelt und anderen Menschen verbunden und desto mehr neigt er dazu, sich eine Meinung über andere zu bilden und auf der Basis seiner Glaubensmuster Schlussfolgerungen über sie zu ziehen.

Er ist gezwungen, sich über die Bewertung und Beurteilung anderer Menschen zu stabilisieren und schreibt ihnen damit eine Identität zu, die allein auf seinen gedanklichen Konzepten beruht.

Kindheitserfahrungen und kulturelle Einflüsse haben ihn auf eine bestimmte Art zu denken, zu fühlen und zu handeln konditioniert. Gleichzeitig verwechselt er die meist ebenso konditionierten Verhaltensmuster seiner Mitmenschen mit ihrem wahren Wesenskern.

Wenn er das tut, dann ist das in sich selbst schon ein zutiefst unbewusstes Verhalten. Die Schein-Identität, die er seinem Gegenüber auf diese Weise gibt wird sowohl für ihn selbst als auch für den anderen zu einem Gefängnis, das eine echte Begegnung verhindert.

Ein falsches Selbst gewinnt durch Konflikte an Kraft. Es hat das unbewusste Bedürfnis nach Gegnerschaft.

Es braucht den Feind, um zu überleben.

Frei von Urteil zu sein bedeutet auf der anderen Seite aber nicht die Augen vor destruktivem Verhalten zu verschliessen. Es bedeutet, dass wir das Verhalten als eine Form von Konditionierung durch die Selbstentfremdung des Individuums erkennen.

Es geht also um seine Akzeptanz und um den Verzicht darauf, aus dem unbewussten Verhalten eines Menschen eine Wertung abzuleiten.

Der Verzicht darauf eine Identität für den Menschen zu konstruieren befreit uns und unser Gegenüber von der Identifikation (der Gleichsetzung) mit konditionierten Verhaltensmustern.

Die Identifikation mit der Stimme im Kopf ist das, was wir unser Ego oder unser verletztes inneres Kind nennen.

Die Gedanken und Handlungen eines in seiner Entwicklung traumatisierten Menschen basieren auf Angst und dem Bedürfnis einen empfundenen inneren Mangel zu kompensieren.

Ein bindungstraumatisierter Mensch braucht in seinen Beziehungen etwas vom anderen (Dinge wie Unterstützung, Anerkennung, Lob, Aufmersamkeit, Liebe oder Bewunderung), um sein Selbstgefühl zu stärken oder er fürchtet sich vor ihm (davor gesehen zu werden, im Vergleich schlecht abzuschneiden), also vor der Minderung seines Selbstgefühls.

Die Selbstaufwertung auf Kosten anderer könnte er nur dann abstellen, wenn er dazu in der Lage wäre, sich vom Verstand zu lösen.

Das kann er jedoch nur, wenn er die Illusion seines Mangels auflöst und lernt sich selbst mit allem, was ihn ausmacht anzunehmen. Erst dann kann er ohne Angst authentisch sein.

Wahre Liebe kennt keine Angst. Sie braucht das Gegenüber nicht, um sich emotional zu stabilisieren.

Und unsere volle Aufmerksamkeit können wir anderen Menschen nur dann schenken, wenn wir sie nicht zur egoistischen Bedürfnisbefriedigung brauchen.

Bindungsverhalten – Verstand und Gedankenlärm

Gedanken und Konzepte erzeugen künstliche Barrieren. Deshalb haben ausschliesslich auf den Verstand basierte zwischenmenschliche Interaktionen keine Tiefe.

Interessenkonflikte sind so schwer lösbar, denn Mitgefühl kann sich erst dann auf natürliche Weise entwickeln, wenn zwischenmenschliche Begegnungen nicht ausschliesslich auf den Austausch von Meinungen begrenzt sind.

Erst das Zulassen von Stille und gemeinsames Erleben des Moments, der nicht durch den Lärm von Worten und Gedanken gestört wird macht uns wirklich offen für den anderen.

Raum lassen und zuhören ohne darüber nachzudenken, was unsere Antwort sein könnte – ohne auf Gesagtes übereilt zu reagieren – das können wir nur, wenn wir uns selbst spüren und uns mit unseren Schwächen und Stärken realistisch einschätzen können und angenommen haben.

Wenn wir im Hier und Jetzt sein können geht das Zuhören über die auditive Wahrnehmung von Worten hinaus. Es entsteht ein vereinendes Schwingungsfeld, in dem wir das Gegenüber nicht mehr als getrennt von uns wahrnehmen.

Bindungsverhalten – Drama und Selbstentfremdung

In Beziehungen zwischen Menschen, die sich selbst entfremdet sind können schon unbedeutende Meinungsverschiedenheiten massive Konflikte, grobe Auseinandersetzungen und emotionalen Schmerz auslösen, weil sich die Beteiligten ihren Wert immer wieder neu beweisen zu müssen.

Die Identifikation mit mentalen Standpunkten dient der emotionalen Stabilisierung. Deshalb werden dann Ansichten bis aufs Messer verteidigt. Es fühlt sich für die Betroffenen tatsächlich so an, als ob es um Leben oder Tod gehen würde.

Wenn wir uns über destruktive Gedankenkonstrukte definieren leben wir vom Gefühl uns verteidigen zu müssen. Das schafft Trennung, Konflikte und Spaltung. Langfristig führt das in den Untergang.

Die Menschheitsgeschichte beweist uns das immer wieder.

Bindungsverhalten – Der gesellschaftliche Spiegel

Wie wirkt sich das Bindungsverhalten der Menschen gesellschaftlich aus?

Was sind die Merkmale einer bindungsgestörten Gesellschaft und auf welchen Mechanismen beruhen sie?

Ein traumatisierter Mensch versucht sich unbewußt oft durch die Auf-oder Abwertung anderer zu stabilisieren. Eine gespaltene Gesellschaft ist also ein Hinweis auf eine zutiefst bindungsgestörte Bevölkerung.

Bürger, die gegen den Verlust von Grundrechten aufbegehren werden zu Staatsfeinden erklärt, während sich eine Minderheit Gott gleiche Allmacht, nicht hinterfragbare Autorität und Entscheidungsgewalt herausnimmt.

Fehlendes Einfühlungsvermögen

Wenn ein 3jähriges Kind einem Welpen ins Ohr kneift, dann versteht es nicht, warum er aufschreit. Was wäre die Konsequenz, wenn dieses Kind den Handlungsspielraum eines Erwachsenen hätte?

Das sehen wir aktuell in unserer Gesellschaft. Wenn Menschen, die körperlich erwachsen und aufgrund unverarbeiteter Traumata emotional auf dem Niveau eines Kleinkindes stecken geblieben sind, Führungspositionen innehaben und Entscheidungen treffen, von denen das Wohl und die Existenz vieler Menschen abhängt, dann führt das uns über kurz oder lang an den gesellschaftlichen Abgrund – in die Krise.

Ihnen fehlt das Einfühlungsvermögen und ein Blick für die Wechselwirkungen der eigenen Handlungen.

Wir wissen, dass Menschen mit einer bestimmten Form von Entwicklungstrauma in einer egozentrischen Blase leben. Es ist eine Schein-Realität, die keinen Perspektivwechsel zulässt.

Um andere Menschen in ihrer Individualität sehen zu können, muss ich mich in sie einfühlen können. Ich muss mich in ihre Welt hinein begeben, um wie sie empfinden zu können.

Wenn ich das nicht kann ist es mir nicht möglich in Konfliktsituationen Optionen zu finden, die für die Bedürfnisse aller Beteiligten Sorge tragen.

Ohne die Fähigkeit sich einfühlen zu können gibt es kein Mitgefühl, was zwangsläufig auch innerhalb einer Gesellschaft zur Spaltung führt.

Unzufriedenheit und Auseinandersetzungen werden durch den Verlust des Vertrauens vieler Menschen zunehmen.

Kontrolle und Manipulation

Manipulation ist definiert als das schwer durchschaubare Vorgehen und Handeln eines Menschen oder einer Gruppe, mit dem Ziel sich einen Vorteil zu verschaffen.

Neben bewussten Manipulationsversuchen gibt es unbewusste subtile Manipulationsmanöver, derer sich viele Menschen mit unsicherem Bindungsverhalten bedienen. Sie sind tückisch und oft extrem schwer auszumachen.

Eine Gesellschaft, deren Staatsapparat Beschlüsse fasst und sie mit manipulativen Taktiken ans Volk verkauft ist ein Beispiel dafür. Das unterminiert langfristig natürlich das Vertrauen der Bevölkerung.

Wenn der Grossteil der Mitglieder dieser Gesellschaft selbst bindungsgestört ist, dann wird ein Teil von ihnen in den Kampf gegen die Obrigkeit ziehen, während andere die Situation erdulden und aussitzen, solange ihr Schmerz nicht grösser ist, als ihr Bedürfnis nach Schutz und Zugehörigkeit.

Diese Situation kann der Staat wiederum manipulativ nutzen und ein Feindbild schüren und die beiden Gruppierungen aufeinander zu hetzen, um von den eigenen Machenschaften und Fehlverhalten abzulenken.

Gaslighting

Gaslighting ist eine besondere Form der Manipulation, mit der man das Gegenüber durch widersprüchliche Aussagen und Handlungen verwirrt und verunsicht. Es führt zur psychischen Zerrüttung.

Dass das vermeintliche Opfer eigentlich der Täter ist bleibt oft über Jahre unerkannt, denn der übergeworfene Schafspelz des guten Zwecks wird perfekt in Szene gesetzt.

Im gesellschaftlichen Bereich zeigt sich Gaslighting im scheinbaren Kampf für eine gute Sache, hinter der eigennützige Beweggründe und Ziele verborgen und durchgesetzt werden.

Um Menschen in eine gewünschte Richtung zu dirigieren und vor den eigenen Karren zu sperren wird die Wahrnehmung der Menschen in Frage gestellt. Man hält beharrlich an Behauptungen fest, die der Realität widersprechen bis Zweifel und Angst vor Ausgrenzung überwiegen.

Viele Menschen sind in der Kindheit mit unbewussten Praktiken des Gaslightings in Berührung gekommen. Sie haben ihr Bauchgefühl, ihre Intuition verloren. Politiker, die ihr Wort brechen, um eigene Interessen durchzusetzen, die Wahrheiten und Fakten verdrehen, um gut dazustehen fühlen sich für sie vertraut und normal an.

Verstrickung

Die ungesunde emotionale Abhängigkeit von anderen Menschen nennt man in der Psychologie Verstrickung. Sie beruht auf fehlender oder mangelhafter Grenzsetzung im Beziehungskontext – in Paarbeziehungen, im Familienverband oder im gesellschaftlichen Rahmen.

Verstrickung führt zum Verlust oder zumindest zur Einschränkung der Selbstidentität. Ohne ein klares Selbstgefühl sind wir wiederum nicht dazu in der Lage gesunde Beziehungen zu führen.

 Menschen, die in verstrickten Familienverbänden groß geworden sind bilden einen guten Nährboden für die Entstehung von totalitären Systemen, die im Namen einer gemeinsamen Sache, derer sich alle unterordnen müssen, um anerkannt zu werden, menschliche Grundrechte, die zur Wahrung der Grenzen des Individuums dienen abschaffen und mit Füssen treten.

Bindungsverhalten – Mitgefühl und innerer Frieden

Einen anderen Menschen in seiner Individualität wahrzunehmen geschieht nicht über Gedanken und Konzepte.

Wir müssen die Vergangenheit und Geschichte eines Menschen gar nicht kennen, um ihn in seiner Essenz zu verstehen. Wenn wir unser Gegenüber zur Stabilisierung des Egos – unseres verletzten inneren Kindes – brauchen, dann bleiben alle unsere Beziehungen oberflächlich, sachbezogen und fragil. Und mit der Zeit entwickeln sie oft sogar destruktive (toxische) Züge.

Machen wir uns deshalb bitte folgendes klar:

Wenn die Vergangenheit unseres Gegenübers unsere Vergangenheit, sein Schmerz unser Schmerz und sein Grad des Bewusstseins unser Grad des Bewusstseins wäre, dann würden wir genauso denken und handeln wie er.

Mit diesem inneren Wissen fällt es uns nicht mehr schwer zu vergeben. Wir können Mitgefühl aufbringen und im Frieden sein.

Unser verletztes Selbst will das natürlich nicht hören, denn wenn es nicht mehr reaktiv und selbstgerecht unterwegs sein kann, verliert es an Kraft.

Wenn wir uns davon nicht abhalten lassen geschieht etwas Wunderbares:

Unsere Mitmenschen beginnen sich zu verändern, wenn wir ihnen erlauben so zu sein wie sie sind.

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