Borderline Syndrom
Inhaltsübersicht
Borderline Syndrom – Definition
Nach dem ICD (International Classification of Diseases) gehört das Borderline Syndrom zu den emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen mit impulsivem Charakter. Es gilt als gesichert, dass frühkindliche traumatische Erfahrungen für die Entstehung verantwortlich sind. Über die Hälfte der Betroffenen berichtet von schwerwiegendem Mißbrauch, über 60% von emotionaler Vernachlässigung, fast alle aber über ein soziales Umfeld, in dem sie sich fremd, gedemütigt oder kontrolliert gefühlt haben.
Persönlichkeitsstörungen werden in Cluster A / B und C unterteilt. Borderline gehört in die Cluster B – Gruppe, die durch ambivalentes emotional launenhaftes Verhalten und Nähe-Distanz-Probleme (Approach Avoidance Repetition Compulsion) gekennzeichnet ist. Zur Zeit gibt es Bestrebungen vom Konzept der Persönlichkeitsstörung abzukommen, denn es handelt sich um Symptome, die sich ausschließlich im Beziehungskontext zeigen.
Das Borderline Syndrom basiert auf einem ausgeprägt ängstlich vermeidendem Bindungsverhalten. Oft findet man bei Betroffenen eine unverarbeitete Mutterwunde. Menschen mit dieser Problematik haben eine besonders stark fragmentierte Psyche. Zum inneren Antagonismus der einzelnen Aspekte kommen massiv durchlässige Grenzen.
Das schwach entwickelte wahre Selbst Betroffener ist nicht dazu fähig die verschiedenen Persönlichkeitsanteile gleichzeitig anzusteuern und zu erleben. Es gelingt also immer nur der Zugriff auf einen Anteil. Alle anderen sind in dem Moment gefühlt gar nicht existent.
Borderline Syndrom – Ursachen
Wenn ein Kind günstige Voraussetzungen im Elternhaus vorfindet kann es seinen Separations- und Individuationsprozess gesund durchlaufen und ein stabiles Ich-Gefühl entwickeln. Dieser Mensch hat dann ein Gefühl für das, was ihn ausmacht, was er braucht und was er möchte.
Er lernt die eigenen Emotionen gesund zu verarbeiten und wird nicht von Affekten und reaktiven Verhaltensmustern beherrscht. Mit anderen Worten: Er hat als Kind gelernt sich selbst zu regulieren. Dieser gesunde Entwicklungsprozess bleibt bei Menschen mit Borderline Syndrom aufgrund der emotionalen Unreife ihrer Bezugspersonen und deren Unfähigkeit ihr Kind als Individuum wahrzunehmen aus.
Wenn Eltern ihrem Kind Botschaften, wie “Du bist böse.”, “Du bist schlecht.”, “Du bist ein Egoist.” o.ä. vermitteln ist es gezwungen sich selbst zu verlassen. Schamgefühle und ein tiefes Gefühl der Wertlosigkeit zwingen es dazu. Seine Angst, die Liebe und das Wohlwollen der Eltern zu verlieren, treibt es zur Ablehnung seiner schmerzlichen Gefühle und derjenigen Aspekte, die Verunsicherung erzeugen. Es verdrängt oder dissoziiert sie.
Mechanismen des Borderline Syndroms
Jeder von uns ist bis zu einem gewissen Grad durch unverarbeitete Kindheitserfahrungen fragmentiert. Wir alle tragen verschiedene Persönlichkeitsaspekte in uns, denn eine Anpassung an die Wünsche und Vorstellungen der Eltern ist für jedes Kind unumgänglich. Die durch Abspaltung entstandenen inneren Anteile zeichnen sich durch individuelle Stärken, Schwächen, Aufgaben und Kompetenzen aus.
Je mehr Aspekte wir in uns tragen, die sich quasi nicht kennen oder sich gegenseitig ablehnen und sich im Kampf miteinander befinden, desto schwieriger gestaltet sich unser Leben und insbesondere unsere Beziehung zu anderen Menschen. Es herrscht eine Art innerer Krieg und manche Aspekte werden aufgrund traumatischer Erfahrungen dabei komplett ins Unterbewusste verdrängt.
Ein Kind wird natürlich immer alles tun, was notwendig ist, um sich die Liebe und Zuwendung seiner Eltern zu sichern. Das ist kein Problem, solange es ein Ich als Steuer-Instanz und Vermittler zwischen den einzelnen Persönlichkleits-Anteilen gibt. Dieser Mensch kann dann dennoch – der jeweiligen Situation entsprechend – sinnvolle Entscheidungen treffen.
Die Fragmentierung selbst ist also nicht so dramatisch. Die Unfähigkeit diese Anteile miteinander zu vereinen aber schon. Denn nur so wird eine sichere, sinnvolle Entscheidungsfindung möglich. Wenn dieser stabile innere Wesenskern fehlt, dann hat das ein ambivalentes, ziel- und planloses Verhalten zur Folge.
Einem Menschen mit Borderline Tendenzen gelingt immer nur der Zugriff auf EINEN Aspekt seiner Persönlichkeit. Kleinste Reize (Trigger) reichen aus, um ihn von einem Persönlichkeitsanteil in den nächsten zu katapultieren. Massive Sprunghaftigkeit im Fühlen und Verhalten (“Approach Avoidance Repetition Compulsion” / “Ich hasse dich.” – “Verlaß mich nicht.”) sind die Folge. Betroffene identifizieren sich komplett mit dem Fragment, das gerade das Ruder an sich gerissen hat.
Menschen mit einem stabilen Ich erleben sich bis zu einem gewissen Grad immer im Zusammenspiel einzelner Persönlichkeitsanteile. Das macht sie stabil und kontinuierlich in ihrem Handeln, Empfinden und Sein. Menschen mit schwachem, instabilem Ich haben in schmerzhaften Situationen z.B. auch keinen Zugriff auf ausgleichend wirkende vergangene positive Erfahrungen.
Sie sind gefühlt nicht existent, als hätte es sie nie gegeben. Die Heftigkeit der negativen Gefühle von Menschen mit Borderline Syndrom liegt darin begründet, dass sie völlig ungefiltert und unrelativiert erlebt werden.
Das Ich (unser Wesenskern) hält verschiedene Persönlichkeitsaspekte auf gewisse Weise zusammen. Nicht so bei Menschen mit Borderline Syndrom. Für sie gibt es immer nur schwarz oder weiss, alles oder nichts. Um die Überspannung zu lindern verletzen sie sich oft selbst. Sie verfallen verschiedensten Süchten oder pflegen hoch riskante Hobbies. Und so wie bei Schmerz alles Positive nicht mehr abgerufen werden kann verblasst auch bei Glücksgefühlen alles negative.
Wenn das Ich eines Menschen nicht ausreifen konnte, dann verliert er seinen Schutz, wenn ein bedürftiger Aspekt die Oberhand gewinnt. In diesen Momenten fehlt der Zugriff auf starke (Schutz-) Aspekte. Ihre Angst davor, sich verletzlich zu zeigen ist also in gewisser Weise berechtigt.
Wenn dieser Mensch wütend ist, dann hat das eine andere Vehemenz, als bei einem Menschen mit gesunder Psyche. In Situationen, die das Potenzial haben Wut auszulösen setzt deshalb oft ein unterbewusster Kontrollmechanismus ein, der das Gefühl abspaltet. Der Preis dessen ist eine empfundene innere Leere. Nach aussen wirkt der Betroffene dann unnahbar oder abweisend.
Unterbewusste Prozesse laufen schneller ab als bewusste. Aber das Ich, unsere Steuerungs-Instanz, kontrolliert normalerweise diese unterbewussten Abläufe. In stressigen Situationen funktioniert das bei schwach entwickeltem Ich aber nicht. Es kommt zu Kurzschlussreaktionen, weil das momentane Empfinden nicht mit bisher gemachten Erfahrungen abgeglichen werden kann.
Borderline Syndrom und Verliebtheit
Ein Mensch mit dieser Persönlichkeitsstruktur identifiziert sich in der Verliebtheit komplett mit dem Gegenüber (Idealisierung). Nur fehlende Ich – Grenzen machen diesen Zustand überhaupt möglich. Er fühlt genau das, was sein Gegenüber fühlt und auch das, was beim Gegenüber unterdrückt ist und kann so die Gefühle, Sehnsüchte und Hoffnungen des anderen in Reinform spiegeln.
Das ist SEINE unterbewusste Art sich mit einem anderen Menschen zu verbinden. Das macht ihre Magie aus. Daher rührt das intensive Gefühl tiefer Verbundenheit (Verschmelzung). Ihre Partner berichten immer wieder davon. Das Gefühl sich noch noch nie so gesehen gefühlt zu haben entsteht auch dadurch, dass das Ich des Gegenübers in dieser Phase ebenso lahm gelegt wird.
Beide Partner identifizieren sich jetzt mit dem bedürftigen Anteil ihrer Persönlichkeit, einem Schatten-Aspekt, der ihnen verborgen war.
Das erzeugt das Gefühl endlich zuhause angekommen und seelenverwandt zu sein. Doch dieses Gefühl kann nur bei Aufgabe der eigenen Identität – des Ichs – bestehen. Und genau dieses Phänomen ist es, was die Faszination und Besonderheit der Beziehungen mit Borderlinern oder pathologischen Narzissten ausmacht. Dieser symbiotische Zustand ist aber immer von kurzer Dauer.
Das schwache Ich bringt Unsicherheit und Instabilität mit sich und die Ängste kommen bald wieder an die Oberfläche, sodass der Borderliner durch einen Aussenreiz plötzlich wieder in einen anderen Aspekt zurückgeworfen wird. Nun identifiziert er sich mit einem anderen Ich -Fragment und mit dessen Gefühlswelt und Perspektive.
Was in diesem Moment passiert kann er seinem Partner unmöglich mitteilen, denn alle anderen Fragmente werden zeitgleich wieder komplett ausgeblendet (abgespalten). Er kann sich emotional nicht daran erinnern, dass er jemals anders gefühlt hat. Der Partner reagiert darauf entsprechend ratlos und verwirrt. Er ist mit der Situation völlig überfordert. Da scheint plötzlich ein anderer Mensch vor ihm zu stehen und er bekommt keinerlei Erklärungen dafür.
Der abrupte Wechsel ist also keine bewusste Entscheidung, sondern ein unwillkürlicher Prozess.
Intime Beziehungen von Menschen mit Borderline Syndrom sind deshalb instabil und intensiv. Je intimer die Beziehung und je wichtiger der andere Mensch, desto vehementer die Angst und desto heftiger die Zurückweisungen.
Borderline Syndrom und Therapie
Die Therapie erfordert von Betroffenen Geduld, Mut und die Fähigkeit Rückschläge in Kauf zu nehmen. Gelingen kann sie nur, wenn die Motivation stimmt. Man muss dazu bereit sein, sich selbst zu reflektieren und seinen Ängsten zu begegnen. Die Therapie hat in erster Linie eine Stabilisierung des schwachen Selbstgefühls und die Re-Integration verleugneter abgespaltener Aspekte zum Ziel.
Die Ansätze sind vielfältig. Sie reichen von klassischer Psychoanalyse bis hin zur Schematherapie und Schattenarbeit. Die Entwicklung der Fähigkeit sich sicher (angstfrei) zu binden ist eine wichtige Grundlage. Denn letztlich basiert das Borderline-Syndrom auf einem besonders stark ausgeprägtem ängstlich vermeidenden Bindungsverhalten.
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