Das Korsett unserer Sozialisierung

Wenn meine Hunde nach einer ausgiebigen Morgenrunde vor lauter Wohlgefühl beim Fressen vor sich hin schmatzen wird mir immer warm ums Herz. Warum ist das so? Spontan würde ich sagen, dass es ihr Welt vergessenes in sich selbst ruhen ist, was mich so berührt. Ihr Vertrauen ins Leben ist ansteckend und springt auch auf mich über. Was kann schon schöner sein ..

Aber dann bemerke ich einen Widerspruch: Warum finde ich dieses Verhalten meiner Hunde liebenswert, reagiere aber mit Abscheu, wenn mein Tischnachbar oder gar mein Date selbstvergessen und genüsslich die als Vorspeise bestellte Suppe in sich hinein schlürft? Warum löst das in mir nicht dieselben warmen, angenehmen Gefühle aus? Warum messe ich da mit ganz verschiedenen Maßstäben?

Das Unterbewusstein

Die Alarmglocken klingen und sagen mir, dass unbewusste Prozesse im Spiel sein müssen. Ich versuche es mit einer ehrlichen Innenschau und frage mich: Warum verachte ich einen Menschen für dieselben authentischen Äußerungen von Wohlbehagen, die ich bei meinem Hund schön finde und liebe? Warum lehne ich einen Menschen dafür ab und beschäme ihn vielleicht sogar dafür?

Die Antworten, die ich gefunden habe möchte ich mit dir teilen. Aber keine Sorge. Der Beitrag wird kein Plädoyer für die Abschaffung von Tischmanieren. Ich möchte dir nur zeigen, wie heilsam es sein kann, wenn du unbewusste Verhaltensmuster ganz bewusst aus dem Schatten ins Licht holst. Dieser Prozess macht dich nicht nur im Umgang mit anderen Menschen, sondern auch mit deinem Hund beziehungsfähiger.

Frühkindliche Prägung

Seit Jahrtausenden werden wir sehr früh in unserem Leben durch das jeweilige soziale Umfeld, in das wir hinein geboren werden in gewisse Formen gepresst. Wir werden direkt oder subtil (bewusst oder unbewusst) dazu genötigt uns anzupassen. Bedürfnisse, Intentionen und Emotionen, die den Normen des sozialen Gefüges nicht entsprechen lernen wir zu unterdrücken. Als Kind mussten wir das aufgrund unserer existenziellen Abhängigkeit tun. Vielleicht hatte Widerspruch oder spontanes Äußern von Emotionen auch für dich negative Konsequenzen.

Durch solche frühkindliche Erfahrungen kann eine destruktive Kettenreaktion entstehen: Wir lernen unseren Gefühlen keinen Raum zu geben und sie (oft geschieht das unbewusst) abzulehnen. Sie werden für uns zur Bedrohung, gegen die wir ankämpfen müssen. Wege und Strategien das zu tun gibt es viele. Mit ihrer Hilfe verschaffen wir uns kurzfristig Erleichterung. Das bestätigt uns wiederum in ihrem Nutzen, sodaß sie sich weiter festigen. Den kurzfristigen Gewinn müssen wir später teuer bezahlen.

Beziehungs-(Un)fähigkeit

Wir minimieren, ignorieren und verdrängen auf diese Weise dauerhaft wichtige Botschaften. Fragen, wie “Wie geht es mir gerade?” oder “Was brauche ich jetzt?” stellen wir uns im Laufe der Zeit gar nicht mehr.

Soziale Fähigkeiten erlernen wir in unseren ersten Beziehungen, in der Interaktion mit unseren Eltern. Wenn sie uns keinen gesunden Umgang mit Gefühlen vermitteln konnten haben wir im späteren Leben kein gutes Navigationssystem. Dann entfremden wir uns von uns selbst und haben nur noch ein diffuses Gefühl für unsere Grenzen. Mit der Folge, dass wir uns in Beziehungen schützen müssen. Wir sind gezwungen uns abzuschotten, wenn wir uns nicht im Gegenüber verlieren wollen. Aus diesem Grund schwanken viele Menschen zwischen übermässiger Anpassung und aggressiver Rebellion hin und her. Das macht uns auch in der Beziehung zu unserem Vierbeiner unsicher. Denn wie können wir klare Grenzen setzen, wenn uns die innere Klarheit fehlt, weil wir uns selbst und unsere eigenen Grenzen nicht wirklich spüren?

Menschen sind Beziehungswesen. Ohne gute Beziehungen verliert unser Leben die Farbe und Sinnhaftigkeit. Das Bedürfnis nach Verbundenheit können wir nicht einfach abschaffen. Es bleibt bestehen, ob wir es wollen oder nicht. Wenn es nicht befriedigt wird, dann muss unser Unterbewusstsein auf alle möglichen (und unmöglichen) Arten nach Lösungen suchen. Und so gerät unser Leben außer Kontrolle. Wir sind den äußeren Umständen ausgeliefert und sitzen nicht mehr am Steuer unseres Lebens, sondern nur noch auf dem Beifahrersitz.

Wenn wir uns die Glaubensmuster und Konditionierungen, die uns einschränken bewusst machen und die Identifikation mit ihnen aufgeben, dann können sie sich auflösen. Wir befreien uns damit aus dieser Negativspirale. Die ehrliche Antwort auf ein paar Fragen lohnt sich: Was macht mich eigentlich aus? Was motiviert mich tatsächlich von innen heraus? Was sind meine Werte und welche Überzeugungen habe ich nur übernommen? Entsprechen sie mir und meinen Absichten oder oder halten sie mich gefangen?

Wir können lernen unsere Gefühle zu ehren, sie anzunehmen und nicht als Störfaktor zu sehen. Aber dazu müssen wir zunächst einmal erkennen, was sie wirklich sind: Wertvolle Botschafter, die wir brauchen, um uns selbst zu verstehen und im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen für uns und letztlich auch für unsere Umgebung zu treffen.

Das Buch ist auch im tredition SHOP erhältlich (lieferbar)

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