6 Narzissmus Fakten

Das Wort Narzissmus wird unbedacht benutzt. Denn es kann für so vieles stehen:

Für einen Zustand, ein Entwicklungsstadium, eine Beziehungsstrategie oder eine Krankheit.

Das schafft eine Menge Verwirrung.

Narzissmus Fakten – Begriff nicht klar definiert

Ungeachtet der Vieldeutigkeit des Begriffs Narzissmus in der Fachliteratur wird das Wort im Alltag auf eine emotionale und oberflächliche Weise gebraucht.

Der Ursprung des Begriffs Narzissmus liegt in der griechischen Mythologie, wonach der Halbgott Narcissus die Liebesbekundungen der Nymphe Echo ablehnte und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. Das führte zur Selbstaufgabe und zum Tod als logische Konsequenz der Fixierung auf ein falsches Selbst. Siegmund Freud griff den Begriff in seinen Werken auf und beschrieb mit dem Begriff einen altersgerechten psychischen Zustand von Kleinkindern:

Babies nehmen ihre Mutter noch nicht als getrennt von sich selbst wahr. Die Loslösung von ihr (der Separations- und Individuationsprozess) beginnt, wenn das Kind laufen lernt. Das sich entfernen von der Mutter erfordert eine gewisse Ich-Bezogenheit (“Mir gehört die Welt.” / “Ich kann das alleine.”).

Diese entwicklungspsychologisch gesunde (notwendige) Selbstüberschätzung des Kindes bezeichnen Psychoanalytiker als primären Narzissmus.

Der reibungslose Ablauf und Abschluß des Separations- und Individuationsprozesses ist für die Entwicklung einer gesunden Psyche enorm wichtig.

Ein gutes Gefühl für die eigenen Grenzen ermöglicht eine gesunde Selbstabgrenzung und gleichzeitig eine gewisse Flexibilität in der Anpassung an andere.

Man spricht von stabilem Narzissmus, wenn Verletzlichkeit generell zwar eher vermieden, prinzipiell aber zugelassen werden kann. Das Zulassen von Verletzlichkeit macht uns erst beziehungsfähig. Es ermöglicht uns Bindungen einzugehen. Der stabile Narzissmus setzt Kontinuität im Selbsterleben voraus. Eine durch unverarbeitete Traumata fragmentierte Psyche kann das oft nicht leisten.

Gesunder Narzissmus ist eine reife balancierte Form der Selbstachtung verbunden mit einen stabilen Selbstwertgefühl. Er setzt das Kennen der eigenen Grenzen und die realistische Einschätzung eigener Stärken und Schwächen voraus. Gesunder und pathologischer Narzissmus sind zwei komplett verschiedene Zustände die ungünstigerweise den selben Namen tragen.

Wenn ein Kind eine zugewandte Mutter hatte, die zu Kontinuität und Konstanz in ihrer Fürsorge fähig war und die dem Kind Raum dafür gegeben hat seine Gefühle und Empfindungen zu erleben, dann konnte es einen unzensierten, selbstverständlichen Zugang zu seinen Gefühlen und Wünschen entwickeln. Später wird dieser Mensch wissen was er will und was er nicht will. Er kann in bestimmten Situationen durchaus traurig, verzweifelt oder hilfsbedürftig sein und sich dennoch achten und wertschätzen.

Er entwickelt im Beziehungskontext weder Angst vor Verlust noch Angst vor Vereinnahmung. Weil er ambivalente Gefühle zeigen durfte erlebt er sowohl sich selbst als auch andere Menschen als “gut und böse” und wird als Erwachsener nicht zu Schwarz-Weiß-Denken neigen. Da er als Kind von seinen Eltern als eigenständiges Wesen geliebt wurde wird er später dazu fähig sein sich selbst und andere Menschen zu lieben.

Narzisstische Denk- , Gefühls- und Verhaltensmuster bewegen sich auf einer breiten Skala. Viele Menschen haben einen mehr oder weniger narzisstischen Beziehungsstil. Ursächlich dafür sind neben entsprechenden Einflüssen früher Bezugspersonen auch gesellschaftliche Wertigkeiten. Bei Menschen mit abweisend vermeidenden Bindungsmustern sind die narzisstischen Tendenzen besonders offensichtlich. Genauer betrachtet findet man sie aber bei allen unsicheren Bindungstypen.

Auch ängstliche Bindungstypen denken, fühlen und verhalten sich egozentrisch. Das diffuse Gefühl für die eigenen Grenzen (“Wo ende ich und wo beginnt mein gegenüber?”) führt zur emotionalen Abhängigkeit von anderen Menschen, die kompensiert werden muss. Ängstliche und vermeidende Bindungstypen haben verschiedene, diametral erscheinende Strategien entwickelt, über die sie versuchen ihre Mitmenschen zu beeinflussen und zu kontrollieren.

Der pathologische Narzissmus  (Narzisstische Persönlichkeitsstörung NPS) wurde in den 80er Jahren in die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten der WHO (ICD) aufgenommen. Aus der neuesten Version, die im Januar 2022 in Kraft getreten ist, wurde er jedoch aus guten Gründen wieder entfernt, denn das Konzept der Persönlichkeitsstörung spiegelt den alten individualistischen Zeitgeist der Gründerjahre der modernen Psychologie wieder.

Seit den 60er Jahren findet langsam ein Umdenken statt. Die Psychologie wird mehr und mehr zur Wissenschaft zwischenmenschlicher Beziehungen. Man hat erkannt, daß das Individuum eine Abstraktion ist und die Symptome sogenannter Persönlichkeitsstörungen aus destruktiven Beziehungsstrategien resultieren, die der Angstlinderung dienen.

Pathologischer Narzissmus impliziert ein unreifes, nicht funktionsfähiges wahres Selbst, das durch eine kompensatorische Fiktion – ein falsches Selbst – ersetzt wird.

Ein Kernstück des pathologischen Narzissmus (äusseres Ende der Narzissmus-Skala) ist der innere Antagonismus (Zerrissenheit). Auf der einen Seite akzeptiert ein Mensch mit pathologisch narzisstischen Mustern die Autorität seiner inneren abwertenden Stimme (Über-Ich). Auf der anderen Seite versucht er diese innere Instanz immer wieder mit Beweisen ihrer Fehlerhaftigkeit zu konfrontieren. Er fühlt sich gezwungen die Behauptungen seines Über-Ichs regelmäßig zu widerlegen, denn nichts bringt diese selbstverachtende Stimme für lange zum schweigen. Der Antagonismus entsteht also durch den verzweifelten Versuch, den Forderungen eines sadistischen Über-Ichs gerecht zu werden und ihm gleichzeitig zu beweisen, dass es mit seinen harschen Urteilen Unrecht hat.

Ein weiteres Kernstück des Narzissmus ist die Selbstbezogenheit. Den Unter-Typen der pathologischen Form des Narzissmus gemeinsam ist der Glaube, dass die eigenen Bedürfnisse und Wünsche einen besonderen Status haben und über denen der Mitmenschen stehen. Beziehungen auf Augenhöhe macht das von vornherein unmöglich. Eine Einschätzung der Psychoanalytikerin Alice Miller: “Die narzisstische Störung ist gekennzeichnet durch die Isolierhaft der wahren Selbst im Gefängnis des falschen Selbst. Ich möchte sie nicht als Krankheit sondern als Tragik verstanden wissen.”

Typisch für Menschen mit einer narzisstischen Störung ist das permanente Streben nach narzisstischer Zufuhr, um das labile Selbstwertgefühl zu regulieren. Die emotionale Instabilität ist Folge dieser Abhängigkeit. Ein weiteres Leitsymptom ist fehlende emotionale Empathie. Betroffene sind aufgrund der frühzeitigen Unterbrechung der emotionalen Ausreifung nur zu kognitiver Empathie fähig. Das führt dazu, dass die eigene Wirkung auf andere permanent über- oder unterschätzt wird.

Beziehungen von Menschen mit NPS – Symptomen sind durch ein Machtgefälle, Machtmissbrauch, Oberflächlichkeit, mangelnde Gegenseitigkeit und fehlende Intimität gekennzeichnet.

Narzissmus Fakten – Frage “Ist Narzissmus heilbar?” nicht zulässig

Die Frage “Ist Narzissmus heilbar?” kann nicht beantwortet werden, weil sich narzisstische Muster auf einer Skala bewegen.

Ob die psychischen Auffälligkeiten eines Menschen therapierbar sind hängt davon ab, ob es einen einigermaßen stabilen Wesenskern gibt, der zur Selbstreflexion fähig ist. Je fragmentierter eine Psyche ist, desto weniger Kontiniutät besteht in der Wahrnehmung der inneren und äußeren Welt und desto begrenzter sind die Therapiemöglichkeiten. Eine sorgfältige Betrachtung des Einzelfalls ist also unumgänglich. Menschen leichtfertig Heilbarkeit abzusprechen ist gefährlich, denn dann könnten wir unter Umständen selbst zu Tätern werden. Mehr dazu: Toxische Menschen

Ein Mensch mit einer narzisstischen Störung konnte seinen Individuationsprozess nicht durchlaufen. Dazu bedarf es einer Mutter, die ihr Kind ermutigt seine Umgebung zu erforschen, es gleichzeitig aber jederzeit mit offenen Armen empfängt, wenn es zu ihr zurückkehrt. Ein pathologischer Narzisst hatte keine Mutter, die sich als eine solche sichere Basis erwiesen hat. Studien belegen, dass NPS-ler in den formativen Jahren neben dem unterbrochenen Individuationsprozess ein weiteres Trauma erlitten haben. Widersprüchliche Botschaften von Bezugspersonen (“Du bist schlecht.” / “Du bist wundervoll.”) haben eine massive Dissonanz erzeugt.

Das Kind, das später eine NPS entwickelt, erfindet als Bewältigungsstrategie einen fantastischen, omnipotenten Freund, mit dem es sich mehr und mehr identifiziert. Dieses falsche Selbst verdrängt sein sich noch in den ersten Entwicklungsstufen befindliches wahres Selbst immer mehr. Es hat keine Chance in Kontakt mit der Realität zu kommen, den es für Wachstumsimpulse dringend braucht, sodass es komplett verkümmert.

Bei Menschen mit einer ausgeprägten Form des pathologischen Narzissmus ist das wahre Selbst nicht mehr existent. Prof. Sam Vaknin: “Wenn wir die Störung entfernen könnten, dann wäre nichts mehr übrig.” Dass ein pathologischer Narzisst Gefühle hat stellt keinen Widerspruch zum fehlenden Selbst dar, denn auch ein Mensch mit einem fragmentierten, nicht funktionsfähigen Selbst hat Gefühle. Sie sind mit Denkvorgängen verbunden und existieren autonom.

Narzissmus Fakten – Pathologischer Narzissmus

Pathologischer Narzissmus ist eine destruktive Beziehungsstrategie. Wenn ein Kind in einem Familienverband groß wird, in dem es einen mißbräuchlichen Elternteil gibt bzw. in dem körperliche, mentale oder emotionale Bedürfnisse unbefriedigt bleiben ist es gezwungen nach einer Lösung zu suchen, die ihm hilft seine Ängste zu reduzieren. Pathologischer Narzissmus ist wie Coabhängigkeit ein solcher Lösungsversuch. Coabhängige Muster bewegen sich ebenso auf einer Skala von einem mehr oder weniger coabhängigen Beziehungsstil bis hin zur Dependenten Persönlichkeitsstörung (DPS).

Das Kind, das später Gefahr läuft eine NPS zu entwickeln hat die unbewusste Entscheidung getroffen, den missbräuchlichen Elternteil zu verherrlichen und zu internalisieren. Sein Grundkonzept ist: “Es ist besser der Täter zu sein, als das Opfer.” Das Kind das später in seinen Beziehungen massiv coabhängige Muster zeigt hat die unbewusste Entscheidung getroffen mit dem mißbräuchlichen Elternteil zu verschmelzen. Sein Grundkonzept lautet: “Wenn ich mich aufgebe und ein Teil meines Gegenübers werde erlange ich die Kontrolle zurück.”

Die Kriterien einer NPS haben zwischenmenschlichen Charakter (Mangel an Empathie, ausbeuterisches Verhalten, Neid, Kritikempfindlichkeit, Grandiosität etc.). Sie zeigen sich nur im Beziehungskontext.

Narzissmus Fakten – pathologischer Narzissmus und Co-Idealisierung

Sowohl der pathologische Narzisst als auch sein coabhängiger Partner investieren unbewußt in eine gemeinsame Phantasie: Sie idealisieren ihr Gegenüber, um sich selbst lieben zu können. Der pathologische Narzisst idealisiert, um sich über den Partner aufzuwerten (“Wenn mein Partner perfekt ist bin ICH perfekt.”). Der Coabhängige idealisiert, um seine Ängste zu dämpfen (“Er liebt mich wie ein bedingungslos liebender Vater und wird mich nicht verlassen.”). Hier findest du mehr zum Vater-Thema. Interessant ist die Analogie zur griechischen Sage, in der eine Nymphe namens Echo um Narcissus Aufmerksamkeit ringt, denn Coabhängige neigen tatsächlich dazu eine Art Echo oder Wiederhall der Persona des Partners zu werden.

Der pathologische Narzisst braucht seinen Partner ebenso wie der Coabhängige, um seine interne Welt (Selbstwert und Emotionen) zu regulieren. Beide benutzen ihr Gegenüber für Funktionen, die im Gesunden unabhängig von anderen Menschen sind. Diese Realisation ist eine enorm wichtige Voraussetzung für den Lösungsprozess aus einer solchen Verbindung. Er gelingt nur über die Betrachtung der eigenen Anteile und kranken Muster. Wenn wir zur Generalisierung “Mein Partner ist ein Narzisst und ich bin das Opfer.” neigen, dann greifen wir selbst zu narzisstischen Mustern, denn Schwarz-Weiss-Denken (Splitting) ist ein infantiler Abwehrmechanismus.

Narzissmus Fakten –  kalte Empathie

Die Entwicklung von Einfühlungsvermögen und gesundem Mitgefühl (warmer Empathie) hängt essenziell davon ab, unter welchen Umständen wir aufgewachsen sind. Wir lernen hauptsächlich durch das Vorbild unserer Eltern. Für das Verständnis der Psyche von Menschen mit pathologisch narzisstischen Mustern ist es hilfreich die 3Komponenten von Empathie zu kennen.

Reflexive Empathie entwickelt sich schon beim Ungeborenen während der Schwangerschaft. Wenn die Mutter lächelt, dann lächelt das Baby zurück. Kognitive Empathie entwickelt sich erst im Kleinkindalter. Das Kind beginnt verschiedene Emotionen am Gesichtsausdruck des Gegenübers zu erkennen. Es weiss: Wenn meiner Mutter Tränen übers Gesicht laufen heisst das, dass sie traurig ist. Es ist davon aber noch nicht berührt. Ihm fehlt die eigene emotionale Reaktion darauf. Emotionale Empathie entwickelt sich erst mit einer gewissen Lebenserfahrung durch den regelmäßigen Kontakt des wahren Selbst mit der Realität.

Ein pathologischer Narzisst konnte nicht mehr als kognitive Empathie entwickeln, weil er frühzeitig ein falsches Selbst als eine Art Puffer zwischen seinem Wesenskern und der Realität errichtet hat. Um emotionale Empathie entwickeln zu können braucht es Verständnis dafür, dass andere Menschen eigene Emotionen haben, denn damit gehen zwangsläufig eigene Gedanken und Vorstellungen einher. Einem pathologischen Narzissten fehlt die Bereitschaft, deren Wert und Berechtigung zu sehen. Selbstbezogenheit und Grandiosität erlauben ihm das nicht.

Narzissmus Fakten – Intermittierende Verstärkung

Intermittierende Verstärkung ist ein Machtinstrument des pathologischen Narzissten. Aufgrund des fragilen Selbstwerts und der Nichtakzeptanz und Intoleranz eines Wir-Gefühls, das Augenhöhe nahelegen würde sieht sich ein pathologischer Narzisst in einer Beziehung zu wiederholten Beweisen seiner Überlegenheit gezwungen. Durch intermittierende Verstärkung hält er seinen Partner in Daueranspannung, Verwirrung und Selbstzweifeln gefangen. Sein inkonsistentes Verhalten stellt das Machtgefälle sicher. Es ist ein effektives Werkzeug, um für den Partner zur einzigen Quelle von Sicherheit (“Ohne mich stirbst du.”) zu werden. Das stärkt sein Gefühl der Überlegenheit und Einzigartigkeit.

Typisch für Menschen mit Borderline Tendenzen (stark ausgeprägtes ängstlich vermeidendes Bindungsverhalten) und für Coabhängige (ängstlich überinvolviertes Bindungsverhalten) ist die tiefe Sehnsucht nach Romantik und starken Gefühlen. Die wiederholten Zurückweisungen und darauf folgende Liebesschwüre des pathologischen Narzissten kommen diesem Bedürfnis entgegen, denn der Kontrast zwischen den “Lows” und “Highs” potenziert ihre Gefühle. Auch wenn das Leid in diesen Beziehungen überwiegt – das unstete Verhalten des narzisstischen Partners befriedigt ihre Sucht nach Intensität. Hier findest du mehr zum Wirkmechanismus der intermittierenden Verstärkung.

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Das Buch ist auch im tredition SHOP erhältlich (lieferbar)

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