Narzisst oder narzisstischer Beziehungsstil?
Sowohl der pathologische Narzissmus als auch narzisstische Beziehungsmuster sind die Folge von Entwicklungs- und Bindungstraumata.
Sie äußern sich oft in Symptomen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung.
Ersteres bildet glücklicherweise nur die Spitze des Eisbergs.
Wenn du diesen Artikel liest ist es unwahrscheinlich, dass du eine pathologisch narzisstische Störung entwickelt hast.
Vielleicht bist du dir aber trotzdem nicht ganz sicher.
Die Frage “Bin ich ein Narzisst oder habe ich lediglich narzisstische Schutzstrategien entwickelt, die ich ablegen kann, wenn ich daran arbeite?” wird mir tatsächlich oft gestellt.
Narzisstischer Beziehungsstil als Traumafolge
Wenn du als Kind körperlich oder emotional missbraucht bzw. vernachlässigt wurdest, dann hat dich das dazu gebracht selbstbezogener zu denken, als andere Kinder.
Als bindungstraumatisierter Erwachsener kannst du nun vielleicht sehr schlecht mit Kritik umgehen.
Vielleicht fällt es dir auch schwer andere Menschen zu unterstützen, wenn sie es gerade bitter nötig hätten. Das sind typische Traumafolge-Erscheinungen.
Aber wie kannst du ausschließen, dass die Symptome deiner kindlichen komlexen posttraumatischen Belastungsstörung nicht eventuell doch den Boden für pathologischen Narzissmus geebnet haben?
Symptome einer chronischen kPTBS sind das Ergebnis länger andauernder traumatisierender Erlebnisse und Erfahrungen in der Kindheit.
Anhaltende emotionale Vernachlässigung und emotionaler Missbrauch in der frühkindlichen Prägung führen später im Leben zu erheblichen Problemen.
Sie entstehen durch die verzerrte Wahrnehmung, die Betroffene von sich selbst, anderen Menschen und ihrer Umgebung haben. Beim ängstlich vermeidenden Bindungstyp sind Ambivalenz und Mißtrauen besonders stark ausgeprägt.
Die Art und Klangfarbe der ersten Beziehungserfahrungen verursacht bei diesem Bindungstyp eine Weltsicht, die von Vorsicht und Angst geprägt ist.
Er sieht alles, was er erlebt durch den Schleier seiner stillschweigenden Überzeugung von anderen über kurz oder lang sowieso enttäuscht, verraten und missbraucht zu werden.
Narzisstischer Beziehungsstil & Egozentrik
Symptome einer kPTBS und Symptome des pathologischen Narzissmus ähneln sich. Sie sind jedoch nicht gleich.
Ich werde das gleich noch genauer beleuchten. Fakt ist: Ein narzisstischer Elternteil verursacht im Kind unsichere Bindungsmuster, die sich oft in Symptomen einer kPTBS zeigen.
Wenn Eltern ihr Kind nicht in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen können, sondern es als Verlängerung von sich selbst sehen, dann kann es kein Ich-Gefühl entwickeln.
Es wird langfristig mit den Folgen seiner diffusen Grenzen und chronischen Schamgefühle kämpfen.
Ein kleiner Teil dieser Kinder absorbiert die narzisstischen destruktiven Muster dieses Elternteils. Er lebt in seinen Beziehungen später wiederum pathologisch narzisstische Züge aus.
Vielleicht kennst du den Satz: Wenn du die Frage „Bin ich ein Narzisst?“ stellst, dann bist du keiner.
Aber das muss nicht immer stimmen. Es ist nicht zwangsläufig ein Zeichen, dass dieser Mensch zur Selbstreflexion fähig ist. Vielleicht sind es auch nur hingeworfene Worte.
Wenn du ehrlich mit dir bist siehst du vielleicht, dass du besonders dann, wenn deine kindlichen Traumata getriggert werden, narzisstische Tendenzen im Denken, Fühlen und Handeln aufweist.
Diese narzisstischen Tendenzen sind es, die deine Beziehungsprobleme nähren, solange die Traumata in dir noch aktiv sind.
Wenn du davon betroffen bist ist das nicht deine Schuld. Aber es lohnt sich, dich selbst zu fragen, ob du vielleicht mit denselben Verhaltensmustern, die dir in der Kindheit eine gesunde emotionale Reifung verbaut haben, Menschen verletzt und von dir wegstößt.
Die Wunden, die zu unsicheren Bindungsmustern und Symptomen einer kPTBS führen bereiten den Boden für pathologische Störungen, wie NPS und Borderline. Zum Glück sind sie relativ selten.
In den meisten Fällen handelt es sich um narzisstische Beziehungsstrategien, die sich im Heilungsprozess auflösen.
Narzisstischer Beziehungsstil & narzisstische Verhaltensmuster
Was sind konkrete Verhaltensmuster, die Menschen mit unsicheren Bindungsmustern oft zeigen, die an Narzissmus erinnern?
1) Der Fokus auf eigene Gefühle in einem Maß, das unsensibel für die Gefühle anderer macht: Wenn du von emotionalem Schmerz überwältigt bist neigst du dazu, auszublenden, was das Gegenüber gerade erlebt.
2) Der Fokus darauf, was andere Menschen über dich denken: Du projizierst deine dich selbst abwertenden Gedanken auf andere und ärgerst dich über sie. („Warum können sie sich nicht auf eine Weise verhalten, wie es mir das Leben leichter machen würde?“)
3) Der Glaube, dass meine Probleme einzigartig sind und keiner das verstehen kann: Du machst unbewusst einen Wettbewerb daraus, wer es am schlechtesten hat.
Der Gedanke „Meine Probleme sind besonders.“ Ist ein narzisstischer Gedanke. Du identifizierst dich mit dem Problem, was dessen Lösung unmöglich macht.
4) Die Opferhaltung: Das was dir passiert ist war schlimm, aber lasse es nicht zu deiner Identität werden.
Deine chronischen Schuld- und Schamgefühle werden heute nicht mehr von anderen Menschen verursacht.
Wenn du sie heute erlebst ist es ein emotionaler Flashback, eine Erinnerung an die Zeit, in der du missbraucht oder vernachlässigt wurdest und dich nicht schützen konntest.
Als Kind warst du das Opfer der Umstände. Wenn du nicht lebenslang darunter leiden willst ist es wichtig, in Berührung mit deiner neuen Identität zu kommen, die sich aus der Opferhaltung befreit hat.
5) Das Schwarz-weiß-Denken: „Ich bin so liebevoll und fürsorglich, aber die Menschen um mich herum sind schlecht und nutzen mich aus.“
Wenn du glaubst, dass andere ohne Grund böse zu dir sind, dann greifst du auf einen kindlichen Abwehrmechanismus zurück (Splitting).
Kein Mensch ist nur gut oder nur schlecht. Die unrealistische Einschätzung der eigenen Person macht deinen Heilungsprozess unmöglich.
6) Die Arroganz, die sich darin zeigt, dass du glaubst zu wissen, was andere Menschen brauchen, tun oder unterlassen sollten: „Ich weiß mehr als du.“ ist die Quintessenz von Arroganz.
Du stößt Menschen damit von dir weg. Wenn sie nicht nach deinem Rat fragen fühlen sie sich kontrolliert und bevormundet, unter Umständen auch kritisiert.
Beeinflussen kannst du Menschen nur durch dein vorleben, nicht indem du versuchst ihnen Lösungen überzustülpen.
Löse deine Probleme und Ängste. Fühle dich selbst frei. Dann fragen sie dich vielleicht eines Tages, wie du das geschafft hast.
7) Die Schwierigkeiten damit, den eigenen Anteil an Beziehungsproblemen zu erkennen: Es fällt dir schwer anzunehmen, dass du einen Einfluss auf die Dynamik deiner Beziehung hast:
„Andere Menschen bestimmen und kontrollieren, wie es mir geht.“ Damit übergibst du dem Gegenüber alle Macht.
Doch Missbrauch in erwachsenen Beziehungen geschieht nur selten vorsätzlich. Er ist eher das Resultat der Beziehungskonstellation zwischen zwei traumatisierten, emotional labilen Menschen, die keine klaren Grenzen entwickeln konnten.
Wenn du glaubst, dass dir andere Menschen oft vorsätzlich schaden, dann gibst du die Kontrolle über dein Leben ab.
Und selbst wenn dich jemand bewusst benutzt hat kannst du daraus lernen. Wenn du heilst wirst du resistenter gegen jeglichen Missbrauch. Dein Herz verschließen kann nur eine temporäre Lösung sein.
8) Die Empfindlichkeit gegen Kritik: Wenn du kPTBS Symptome hast fühlst du dich so unsicher und zerbrechlich, dass es schwer ist der Kritik anderer standzuhalten. Im Gegensatz dazu ist der Hintergrund der Unfähigkeit Kritik zu tolerieren beim pathologischen Narzissmus die Fantasie seiner Perfektion und Überlegenheit.
Bindungstraumatisierten Menschen fehlt oft das Unterscheidungsvermögen zwischen gesunder Kritik und einer “Kritik” durch Projektion der eigenen Schwächen des Kritik ausübenden.
9) Das Eingehen von Beziehungen mit Menschen, die noch massivere Trauma-Symptome zeigen und dich als „besser, schlauer, fähiger“ wahrnehmen. Menschen mit NPS umgeben sich mit Menschen, die sie bewundern und uneingeschränkt zu ihnen aufschauen.
Bindungstraumatisierte Menschen mit narzisstischen Beziehungsstrategien schaffen es aber auch nicht Beziehungen auf Augenhöhe zu führen. Es gibt immer ein Machtgefälle, allerdings in die eine oder andere Richtung. Sie können sich auf beiden Seiten wiederfinden.
Hierarchische Beziehungen haben ihren Platz (Eltern-Kind-Beziehung / Arbeitsumfeld). In intimen Beziehungen sind sie aber immer destruktiv. Selbst wenn beide stillschweigend zustimmen – sie verhindern gesundes Wachstum. Besonders nuanciertere Probleme müssen so nicht geklärt werden. Es herrscht die stillschweigende Übereinkunft, dass der überlegene Partner entscheidet.
10) Die Beschuldigungen und Verallgemeinerungen: „Wir leben in einer schrecklichen Welt, in der sich keiner um den anderen sorgt.“ Du hattest schreckliche Erlebnisse, identifizierst dich mit entsprechenden Gedankenmustern und Gefühlen und lässt es zu, dass sie verhärten.
11) Das Gefühl einen Anspruch darauf zu haben, dass andere Menschen Verantwortung für deine Probleme und die der Welt übernehmen: Du übersiehst dann leicht deine Eigenverantwortung.
Wenn du ein paar Schritte aus deiner Komfortzone herausgehst und die Güte, die unter deinen Trauma-Symptomen verschüttet wurde in die Welt trägst wirst du mit Lebensfreude, einem Gefühl von Freiheit und Ermächtigung belohnt, das du in deiner Anspruchs-Position nicht hattest.
Wenn du dich hier wiedererkennst kannst du davon ausgehen, dass du ungelöste Bindungstraumata in dir trägst. Wende dich gern an mich oder an einen anderen Therapeuten, dem du vertraust, wenn du Unterstützung in deinem Heilungsprozess brauchst.
Hier findest du meine Angebote.
Das Buch ist auch im tredition SHOP erhältlich (lieferbar)