Schamgefühle aus der Kindheit

Wenn du verstanden hast, dass du in deinen Beziehungen bisher destruktive Muster ausgelebt hast, dann wäre es nun an der Zeit, den Zusammenhang zwischen komplexen Bindungstraumatisierungen und chronischen Schamgefühlen zu erkennen.

Mit diesem Artikel möchte ich dir helfen die Tragweite chronischer Schamgefühle zu erfassen.

Scham ist mit Abstand die gravierendste negative Konsequenz kindlicher Bindungsverletzungen.

Wenn ein Kind von seinen wichtigsten Bezugspersonen vernachlässigt, verlassen oder auf irgendeine Weise missbraucht wird, dann kann sein noch nicht ausgereiftes Gehirn und Nervensystem keine andere Schlußfolgerung ziehen, als dass es an ihm liegen muss. Es glaubt:

„Mit mir stimmt etwas nicht.“ / „Ich genüge nicht.“ / „Ich bin nicht liebenswert.“

Schamgefühle erkennen

Frühe Bindungsverletzungen prägen das sich noch in der Entwicklung befindliche Selbstbild eines Kindes. Sie verschieben es ins Negative.

Aus „Ich bin okay.“ wird „Ich bin nicht okay.“.

Diese verinnerlichte negative Identität wird sich später auf alle Lebensbereiche auswirken.

Sie beeinflusst deine Beziehungen, die Art wie du mit Schwierigkeiten umgehst, die Art, wie du denkst und was du tust, um dich sicher zu fühlen.

Chronische Schamgefühle erzeugen ein System aus Kontrollmechanismen, die unterbewusst ablaufen:

Innere kritische Stimmen suchen ununterbrochen nach Fehlern in dem, was du tust. Und es ist ein Trugschluss, wenn du glaubst, dass sie dazu beitragen, dass du dich durch sie entwickelst. Denn sie nähren deine chronischen Schamgefühle.

Jedes mal, wenn deine Schamgefühle durch einen Außenreiz getriggert werden produzieren sie verzerrte Gedanken im limbischen Teil deines Gehirns. Darauf reagierst du instinktiv mit Rückzug, Wut, Mauern oder Lügen. Du wirst dann Dinge tun, die chronische Schuldgefühle füttern und deine Schamgefühle vermehren

Die Bewältigungsstrategien, die sich ursprünglich entwickelt haben, um Schamgefühle in Schach zu halten werden nun zu deren Quelle.

Was deine Schamgefühle nährt

Deine Schamgefühle kannst du erst auflösen, wenn du weisst, was sie nährt. Die wichtigsten Mechanismen sind:

Perfektionismus:

Du hast verinnerlicht, dass du dich anstrengen mußt perfekt („gut genug“) zu sein. Perfektion ist jedoch ein Konstrukt, dass in der Realität gar nicht existiert. Du strebst also nach etwas, was du nicht erreichen kannst und beweist dir damit zwangsläufig dein altes verinnerlichtes negatives Selbstkonzept.

 People Pleasing:

Durch Anpassung an andere und die Erfüllung ihrer Wünsche und Bedürfnisse versuchst du dir Anerkennung zu erarbeiten, um dich selbst ein bisschen mehr zu mögen. Da du es aber niemals allen anderen recht machen kannst wirst du oft scheitern, was dir – scheinbar – deine Mangelhaftigkeit beweist.

→ Wert über äußeres Erscheinungsbild:

Du machst deinen Wert an deinem Körper, deinem Status, deiner Macht oder deinem Intellekt fest. All das kann eine Weile funktionieren, aber irgendwann beginnst du zu bemerken, dass es immer jemanden gibt, der dich übertrumpft. Auch das füttert deine alten Schamgefühle.

 Tragen von Masken:

Wenn du glaubst so wie du bist nicht okay zu sein schlüpfst du vielleicht in eine Scheinidentität: „Wenn ich diese oder jene Rolle spiele wird man mich mögen.“ Doch dein innerer Kritiker wird dich daran erinnern, dass du ein Lügner (nicht echt) bist. Diese Strategie funktioniert also auch nicht.

 Immer das Schlimmste erwarten:

Wenn deine UR-Wunde der Vertrauensbruch ist hast du wahrscheinlich einen ängstlich vermeidenden Bindungsstil entwickelt und bleibst in der kindlichen Weltsicht verhaftet, dass alles, was um dich herum passiert etwas mit dir zu tun hat. Wenn du jemandem eine Nachricht schreibst und keine Antwort bekommst, dann wirst du annehmen, dass du das Gegenüber verärgert hast. Auch diese Neigung füttert deine chronischen Schamgefühle.

 Kontroll- und Manipulationsverhalten:

Du glaubst dich durch Kontrolle und Manipulation absichern zu können und damit Verletzungen zu vermeiden. Aber auch das ist eine Bestrebung, die dich regelmäßig scheitern läßt, weil du das Verhalten anderer Menschen nicht kontrollieren kannst.

 Unantastbarkeit vortäuschen:

Du hast einen abweisend vermeidenden Bindungsstil entwickelt und versuchst dich zu schützen, indem du deine Krisen für dich behältst und deine Schwächen niemandem offenbarst, weil du glaubst, dass du dann abgelehnt und verachtet werden würdest.

Was du nicht realisierst ist, dass sich alle Menschen um dich herum diesen Herausforderungen gegenüber sehen. Darüber zu sprechen würde dich von dem immensen Druck befreien, der entsteht, wenn du glaubst damit allein zu sein. Das Verheimlichen deiner Unzulänglichkeiten gibt deinen Schamgefühlen alsi ebenso neue Kraft.

Jede Lösung, die dein Gehirn gefunden hat, um Scham zu umgehen füttert langfristig die unangenehmen Körperreaktionen, die Schamgefühle auslösen.

Erkennst du das destruktive, sich selbst nährende System, das dein Gehirn da erschaffen hat ?

Schamgefühle als Gefängnis

Dieses effektive System bringt dich davon ab etwas zu ändern UND es hindert dich daran, dich von deinen Schamgefühlen zu befreien.

Es hat bildlich ausgedrückt ein Gefängnis aus Gitterstäben, Gefängniswächtern und mehreren Schichten von Sicherheitsmaßnahmen errichtet. Aber wenn du die Gitterstäbe durchbrechen und die Wächter umgehen könntest wärst du längst noch nicht frei:

Du würdest nun auf eine Schicht der Sicherheitsvorkehrung nach der anderen treffen. Und ja – jede einzelne gilt es zu knacken.

Wenn du den Versuch startest, Veränderungen anzugehen wirst du auf Widerstände stoßen.

Der Grundtenor lautet: „Es ist kreuzgefährlich, was du da vorhast.“

Viele Menschen erkennen zwar die Notwendigkeit für Veränderung, scheitern aber immer wieder und geben dann enttäuscht auf.

Weil sie merken, dass der Heilungsprozess kein geradliniger bequemer Pfad ist, mit Hürden, die sie scheinar nicht überwinden können.

Und was liegt dann näher, als zurück in die alte Komfortzone zu gehen, die zwar schmerzhaft aber bekannt ist.

Schamgefühle und ihre Macht

Ein Beispiel:

Eine Frau erkennt, dass sie ihrer Mutter gegenüber bessere Grenzen setzen muß. Sie ist sehr fordernd und ruft mehrmals täglich an oder kommt einfach vorbei. Sie konfrontiert sie mit der Aussage:

„Ich hab einen anspruchsvollen Alltag. Ich möchte, dass du mich nur einmal täglich anrufst und nur einmal wöchentlich zu Besuch kommst. Und wenn du da bist, dann möchte ich nicht, dass du schlecht über meinen Vater sprichst und mir alle Details deiner Probleme mit ihm erklärst. Außerdem dulde ich keine respektlosen Sprüche, die mich herunterziehen.“

Die Mutter reagiert wütend und wirft ihrer Tochter Egoismus, narzisstisches Verhalten und Respektlosigkeit vor. Das Schlimme daran: Sie klingen tatsächlich wahr, wenn man sie aus dem Kontext löst.

Darauf hin zieht sie sich in stillem Groll zurück und spricht nicht mehr mit ihrer Tochter. Sie meidet sie und antwortet nicht auf ihre Texte. Sie bestraft sie, indem sie sie, wie einen schlechten Menschen behandelt.

Die Tochter ist durch das Verhalten ihrer Mutter getriggert. Sie spürt Scham und Zweifel hochkommen:

„Bin ich zu egoistisch oder vielleicht sogar narzisstisch?“. Sie fühlt all die falschen Schuldgefühle und Botschaften aus ihrer Kindheit erneut, denn der innere Kritiker belebt die alten Geschichten, die belegen, wie selbstbezogen und uneinfühlsam sie ist.

Ein Schutzaspekt in ihr versucht nun das Steuer an sich zu reißen, um endlich zurückzurudern und die Mutter zu besänftigen, damit die Bestrafung endet und wieder Frieden herrscht.

Ihr noch schwaches reifes Ich will psychisch gesund werden, aber dann kommen die ersten Anrufe von Tanten und Geschwistern, die sie fragen, was sie denn da mit ihrer Mutter macht:

„Warum mußt du das Leben deiner Mutter so schwer machen? warum kannst du nicht die Tochter sein, die deine Mutter so sehr braucht?“

Die ganze Familie stellt sich gegen sie und sie realisiert, dass sie bald alleine dastehen wird. Das ist der Punkt, an dem sie aufgibt und beschließt sich mit dem Status Quo zufrieden zu geben, der der einfachere ist.

Wenn du das liest mache dir bitte bewusst:

Das erste Hindernis, dem du begegnest, wenn du dich auf den Heilungsweg begibst und deine Bedürfnisse zu formulieren beginnst ist deine Angst.

Du wirst durch sie hindurch gehen müssen, wenn du wachsen willst und dein Verstand wird dir viele plausible Gründe dafür liefern, warum das keine gute Idee ist.

!! Zweifel, Unsicherheit, Schreckensszenarien und alte Überzeugungen werden dich überfluten, um dich davon abzuhalten.

Wenn du tiefer schaust wirst du wieder auf Scham, die Angst vor Ablehnung, die Angst nicht gesehen, nicht gehört und nicht geliebt zu werden stoßen. Und so wird es dir vielleicht einfacher erscheinen unsichtbar zu bleiben.

Schamgefühle und deren Gitterstäbe

Die Gitterstäbe deiner Gefängniszelle bestehen aus Überzeugungen, die in der Kindheit wahr zu sein schienen.

Sie klingen z.B. so:

„Wenn ich meine Bedürfnisse äußere bin ich selbstbezogen und lieblos.“

„Wenn ich ein Kilo zunehme bin ich abstoßend.“

„Wenn ich nicht wie ein Model aussehe bin ich häßlich.“

„Wenn ich die Antwort nicht weiß bin ich dumm und jeder wird es wissen.“

„Wenn mich jemand korrigiert oder einen Rat für mich hat, dann bedeutet das, dass ich bin dumm.“

„Wenn ich entspanne oder etwas tue, was mich interessiert, dann bin ich egoistisch und faul.“

„Wenn Menschen nett zu mir sind, dann nur, weil sie mich nicht kennen oder weil sie mich manipulieren wollen. Es kann nicht sein, dass sie mich wertschätzen. Das ist unmöglich.“

„Ich möchte, dass man mich mag. Deshalb muss ich meine Bedürfnisse opfern und bereit sein mich gegen meine Werte und Wünsche zu entscheiden.“

„Jeder, der mich näher kennenlernen würde, wird merken, dass ich ein Versager bin. Authentisch sein würde Ablehnung nach sich ziehen.“

„Ich muß immer fröhlich sein. Denn wenn ich traurig bin werde ich verstoßen.“

„Wenn ich einfach zugebe, dass es meine Schuld ist, dann sind alle wieder zufrieden.“

„Ich kann ohne die Akzeptanz meiner Familie nicht überleben. Also muss ich mich ihren Wünschen unterordnen.“

Schamgefühle und deren Wächter

Du hast Stimmen von Bezugspersonen verinnerlicht, die dir in der Kindheit oft antagonistisch gegenüberstanden.

Daraus ist ein Wächter deiner chronischen Schamgefühle – der innere Kritiker – entstanden. Er findet in allem, was du tust Fehler und Mißstände.

Es ist nie gut genug, selbst dann nicht, wenn du positive Veränderungen anstrebst. Stattdessen überschüttet er dich mit abfälligen Bemerkungen.

Ein weiterer besteht aus narzisstischen Autoritätspersonen in deinem Leben, die die Fähigkeit haben Dinge zu verdrehen und zu verzerren.

Sie verwirren und verunsichern dich, sodass du glaubst ein schrecklicher Mensch zu sein. Sie werden dir egoistische Motive unterstellen, wenn du dich entwickelst.

Der dritte Wächter besteht aus familiären Unterstützern, die glauben , dass der beste Weg in die Zufriedenheit aus Anpassung besteht.

Sie greifen dich vielleicht direkt an und werfen dir vor egozentrisch zu handeln oder sie versuchen es mit subtiler Manipulation, um die Familiendynamik aufrecht zu erhalten. Wenn du genau hinschaust agieren sie aus ihren eigenen Ängsten heraus.

Schamgefühle und deren Schichten der Angst

A – Angst verlassen zu werden: „Nein du kannst dich nicht gegen deine Familie stellen, denn wenn du sie verlierst beweist das, dass du nichts wert bist.“

B – Angst zu versagen: „Versuche nichts Neues, denn wenn es nicht gelingt beweist du dir erneut, dass du zu nichts taugst.“

C – Angst verletzt zu werden: „Baue zu keinem eine Bindung auf. Er wird dir weh tun, wenn er dich näher kennenlernt.“

D – Angst, dass etwas schlimmes passieren wird

E – Angst deine Sorgen und Nöte mit anderen zu teilen

F – Angst davor um Hilfe zu bitten

G – Angst davor die Gefühle anderer zu verletzen (chronische Schuld)

→ Wenn du als Kind dem Gaslighting einer Bezugsperson ausgesetzt warst kämpfst du vielleicht mit Schichten der Verwirrung, die dich oft an dir selbst zweifeln lassen.

→ Vielleicht nimmst du aber auch Geschehnisse nicht realistisch wahr, weil du zu emotionalem Denken neigst: Dann denkt der limbische Teil deines Gehirns, dass das, was du fühlst der Wahrheit entspricht.

→ Es könnte auch sein, dass du dich mit deinen unrealistischen Erwartungen auseinandersetzen musst: Da du es gewohnt bist unrealistische Erwartungen an dich zu stellen schaffst du dir Mißerfolge, die deine Schamgefühle untermauern.

→ Auch Unsicherheiten und fehlerhafte Vergleiche können dich im Heilungsprozess ausbremsen.

Schamgefühle lösen

Wie du siehst ist das Gefängnis aus chronischen Schamgefühlen hocheffektiv. Deshalb wird dein Heilungsprozess auch nicht geradlinig verlaufen.

Es ist ein Prozess, der deine Zuwendun, Motivation und Geduld braucht. Denn gesunde Veränderungen werden zunächst unangenehme Gefühlszustände hervorbringen, was frustrierend und entmutigend sein kann, sodass Zweifel am Weg aufkommen. Manche Menschen geben dann auf.

Mache dir bitte folgendes bewusst:

Deine Trigger katapultieren dich in den limbischen Teil deines Gehirns. Sie erzeugen schwere Gefühlszustände und verzerrte Gedankenmuster, die nicht die Realität wiederspiegeln.

Du kannst lernen, dich aus diesem Zustand zu befreien. Wenn du dich erden kannst wird die Verbindung zum Frontallappen deines Gehirns wieder hergestellt und so kannst du wieder realitätsbezogen handeln.

Ich hab an manchen Punkten meines Prozesses einen Mentor gebraucht. Und wahrscheinlich wird es dir nicht anders gehen.

Suche dir einen Menschen, der diesen Weg schon gegangen ist, der dich auf dieser Reise voller Widerstände unterstützt. Der dich an die Wahrheit erinnern kann, wenn du abzugleiten drohst.

Jemand, der dir hilft, dich auf gesunde Weise durch deine Trigger durchzuarbeiten, um dich nicht immer wieder zu traumatisieren.

Vielleicht hilft dir ja meine  Einschätzung deiner individuellen Situation. Buche dazu gern ein Einschätzungsgespräch mit mir.