Schamgefühle aus der Kindheit

Wenn du erkannt hast, dass du in deinen Beziehungen wiederholt destruktive Muster auslebst, dann ist es nun wichtig, den Zusammenhang zwischen komplexen Bindungstraumatisierungen und chronischen Schamgefühlen in der Tiefe zu verstehen. Mit diesem Artikel möchte ich dir helfen die Tragweite chronischer Schamgefühle zu erfassen.

>> Scham ist mit Abstand die gravierendste negative Konsequenz kindlicher Bindungsverletzungen.

Denn wenn ein Kind vernachlässigt, verlassen oder mißbraucht wurde, dann kann sein noch nicht ausgereifter Verstand keine andere Schlußfolgerung ziehen, als dass es an ihm liegen muss: “Mit mir stimmt etwas nicht.” / “Ich genüge nicht.” / “Ich bin nicht liebenswert.”

Schamgefühle erkennen

Frühe Bindungsverletzungen haben dein sich noch in der Entwicklung befindliches Selbstbild geprägt und ins Negative verschoben.

Mit anderen Worten: Aus “Ich bin okay.” wurde “Ich bin nicht okay.”.

Diese negative Identität wird sich später auf alle Lebensbereiche auswirken. Sie wird deine Beziehungen und die Art wie du mit Schwierigkeiten umgehst, wie du denkst und was du tust, um dich sicher zu fühlen beeinflussen.

Chronische Schamgefühle bilden ein extrem effektives System mit machtvollen Aufgaben, die unterbewußt ablaufen:

1) Ein innerer Kritiker sucht ununterbrochen nach Fehlern in dem, was du tust. Er trägt nicht dazu bei, dass du dich entwickelst, sondern nährt die Schamgefühle.

2) Jedes mal, wenn deine Schamgefühle getriggert werden produzieren sie verzerrte Gedanken im limbischen Teil deines Gehirns. Darauf reagierst du instinktiv mit Rückzug, Wut, Mauern oder Lügen. Du tust Dinge, die dich langfristig schuldig fühlen lassen und deine Schamgefühle vermehren.

>> Die Bewältigungsstrategien, die sich ursprünglich entwickelt haben, um Scham in Schach zu halten werden zu dessen Quelle.

Was Schamgefühle nährt

Eine Voraussetzung dafür, dass du deine Schamgefühle auflösen kannst ist die Kenntnis der Dinge, die deine Schamgefühle weiterhin nähren:

1) Perfektionismus: Du hast verinnerlicht, dass du dich darum bemühen mußt perfekt (“gut genug”) zu sein. Aber Perfektion ist ein Konstrukt, dass in der Realität nicht existiert. Du strebst nach etwas, was du nicht erreichen kannst und beweist dir damit regelmäßig dein altes verinnerlichtes negatives Selbstkonzept.

2) People Pleasing: Durch Anpassung an andere, durch die Erfüllung ihrer Wünsche und Bedürfnisse – durch das Erarbeiten ihrer Anerkennung – versuchst du dich selbst ein bißchen mehr zu mögen. Da du es aber niemals allen anderen recht machen kannst scheiterst du regelmäßig, was dir deine Mangelhaftigkeit beweist.

3) Wert über äußeres Erscheinungsbild: Du versuchst deinen Wert an deinem Körper, deinem Status, deiner Macht oder deinem Intellekt festzumachen. All das scheint eine Weile zu funktionieren, aber irgendwann bemerkst du, dass dich immer irgendjemand übertrumpfen wird. Das füttert die alten Schamgefühle.

4) Tragen von Masken: Wenn du glaubst so wie du bist nicht okay zu sein entscheidest du dich vielleicht für eine Scheinidentität: “Wenn ich diese oder jene Rolle spiele, dann wird man mich mögen.” Doch im Inneren wird der innere Kritiker dich daran erinnern, dass du Fake und ein Lügner bist. Diese Strategie funktioniert also auch nicht.

5) Immer das Schlimmste erwarten: Wenn deine UR-Wunde der Vertrauensbruch ist hast du wahrscheinlich einen ängstlich vermeidenden Bindungsstil entwickelt und bleibst in der kindlichen Weltsicht verhaftet, dass alles, was um dich herum passiert etwas mit dir zu tun hat. Wenn du jemandem eine Nachricht schreibst und keine sofortige Antwort bekommst, dann wirst du annehmen das Gegenüber verärgert zu haben. Auch diese Neigung füttert die chronischen Schamgefühle.

6) Kontroll- und Manipulationsverhalten: Du glaubst dich durch Kontrolle und Manipulation absichern zu können und damit Verletzungen zu vermeiden. Aber auch das ist eine Bestrebung, die dich regelmäßig scheitern läßt, weil du das Verhalten anderer Menschen nicht kontrollieren kannst.

7) Unantastbarkeit vortäuschen: Du hast einen abweisend vermeidenden Bindungsstil entwickelt und versuchst dich zu schützen, indem du deine Krisen für dich behältst und deine Schwächen niemandem offenbarst, weil du glaubst, dass du dann abgelehnt und verachtet werden würdest. Was du nicht realisierst ist, dass sich alle Menschen um dich herum diesen Herausforderungen gegenüber sehen. Darüber zu sprechen würde dich von dem immensen Druck befreien, der entsteht, wenn du glaubst damit allein zu sein. Das Verheimlichen deiner Unzulänglichkeiten gibt den Schamgefühlen neue Kraft.

Jede Lösung, die dein Gehirn gefunden hat, um Scham zu umgehen füttert also langfristig die extrem unangenehmen Körperreaktionen, die Schamgefühle nun mal auslösen. Erkennst du das destruktive sich selbst nährende System, das dein Gehirn da erschaffen hat?

Schamgefühle als Gefängnis

Dieses System bringt dich davon ab etwas zu ändern UND es hindert dich daran, dich von den Schamgefühlen zu befreien. Dazu hat es ein Gefängnis aus Gitterstäben, Gefängniswächtern und mehreren Schichten von Sicherheitsmaßnahmen errichtet. Wenn du die Gitterstäbe durchbrechen und die Wächter umgehen könntest, dann wärst du längst noch nicht frei. Du würdest nun auf eine Schicht der Sicherheitsvorkehrung nach der anderen treffen. Und jede einzelne gilt es zu knacken.

Jedes Mal, wenn du den Versuch startest, die von dir als positiv erkannten Veränderungen anzugehen,  wirst du auf Widerstände stoßen, deren Grundtenor sein wird:  “Es ist kreuzgefährlich, was du da vorhast.”

Das Resultat ist, dass viele Menschen die Notwendigkeit für Veränderung erkennen, aber immer wieder scheitern und dann enttäuscht aufgeben. Sie merken, dass der Heilungsprozess kein geradliniger bequemer Pfad ist. Sie sehen sich einer Hürde nach der anderen gegenüber. Zurück ins Gefängnis zu gehen scheint einfacher und bequemer zu sein, als sich weiter abzumühen.

Schamgefühle und ihre Macht

Ein Beispiel: Eine Frau erkennt, dass sie ihrer Mutter gegenüber bessere Grenzen setzen muß. Sie ist sehr fordernd und ruft mehrmals täglich an oder kommt einfach vorbei. Sie konfrontiert sie mit der Aussage: “Ich hab einen sehr anspruchsvollen Alltag. Ich möchte, dass du mich nur einmal täglich anrufst und einmal wöchentlich zu Besuch kommst. Und wenn du da bist, dann möchte ich nicht, dass du schlecht über meinen Vater sprichst und mir alle Details deiner Probleme mit ihm erklärst. Außerdem dulde ich keine respektlosen Sprüche mehr, die mich herunterziehen.”

Die Mutter reagiert wütend und wirft ihrer Tochter Egoismus, narzisstisches Verhalten und Respektlosigkeit vor. Es sind Lügen, die wahr klingen, wenn man sie aus dem Kontext löst. Nun zieht sie sich in stillem Groll zurück und spricht nicht mehr mit ihr. Sie meidet ihre Tochter und antwortet nicht auf ihre Texte. Damit bestraft sie sie und behandelt sie, wie einen schlechten Menschen.

Diese Frau ist durch das Verhalten ihrer Mutter getriggert. Sie spürt Scham und Zweifel: “Bin ich zu egoistisch oder vielleicht sogar narzisstisch?”. Sie fühlt all die falschen Schuldgefühle der Botschaften ihrer Kindheit, denn der innere Kritiker belebt alle alten Geschichten, die belegen, wie selbstbezogen und uneinfühlsam sie ist.

Ein Schutzaspekt in ihr versucht nun das Steuer an sich zu reißen, um endlich zurückzurudern und die Mutter zu besänftigen, damit die Abstrafung endet und wieder Frieden herrscht.

Ihr noch schwaches reifes Ich will immernoch psychisch gesund werden, aber dann kommen die ersten Anrufe von Tanten und Geschwistern, die sie fragen, was sie denn da mit ihrer Mutter macht: “Warum mußt du das Leben deiner Mutter so schwer machen? warum kannst du nicht die Tochter sein, die deine Mutter so sehr braucht?” Die ganze Familie stellt sich gegen sie und sie realisiert, dass sie bald alleine dastehen wird. Das ist der Punkt, an dem sie aufgibt und beschließt sich mit dem Status Quo zufrieden zu geben, der der einfachste ist.

Das erste Hindernis, dem du dich gegenüber sehen wirst, wenn du dich für den Heilungsweg entscheidest und deine Bedürfnisse formulierst ist Angst. Du wirst durch sie hindurch gehen müssen, wenn du wachsen willst. Dein Verstand wird dir viele Gründe dafür liefern, warum das keine gute Idee ist. Zweifel, Unsicherheit, Schreckensszenarien und alte Überzeugungen werden dich überfluten, um dich davon abzuhalten.

Doch wenn du tiefer schaust wirst du wieder auf Scham und die Angst davor, abgelehnt, nicht gesehen, nicht gehört und nicht geliebt zu werden stoßen. Es wird dir einfacher erscheinen unsichtbar zu bleiben.

Schamgefühle und deren Gitterstäbe

Die Gitterstäbe deiner Gefängniszelle bestehen aus Lügen, die in der Kindheit wahr zu sein schienen. Sie klingen z.B. so:

“Wenn ich meine Bedürfnisse äußere bin ich selbstbezogen und lieblos.”

“Wenn ich ein Kilo zunehme bin ich abstoßend.”

“Wenn ich nicht wie ein Model aussehe bin ich häßlich.”

“Wenn ich die Antwort nicht weiß bin ich dumm und jeder wird es wissen.”

“Wenn mich jemand korrigiert oder einen Rat für mich hat, dann bedeutet das ich bin dumm.”

“Wenn ich entspanne oder etwas tue, was mich interessiert, dann bin ich egoistisch und faul.”

“Wenn Menschen nett zu mir sind, dann weil sie mich nicht kennen oder weil sie mich manipulieren wollen. Es kann nicht sein, dass sie mich wertschätzen. Das ist unmöglich.”

“Ich möchte, dass man mich mag. Deshalb muß ich meine Bedürfnisse opfern und bereit sein mich gegen meine Werte und Wünsche zu entscheiden.”

“Jeder, der mich näher kennenlernen würde, wird merken, dass ich ein Loser bin. Authetisch und verletzlich sein würde also Ablehnung nach sich ziehen.”

“Ich muß immer fröhlich sein. Denn wenn ich traurig bin werde ich verstoßen.”

“Wenn ich einfach zugebe, dass es meine Schuld ist, dann sind alle wieder zufrieden.”

“Ich kann ohne die Akzeptanz meiner Familie nicht überleben. Also muß ich mich ihren Wünschen unterordnen.”

Schamgefühle und deren Wächter

Einer davon ist der innere Kritiker. Er überschüttet dich mit kritischen Bemerkungen, Lügen und Ängsten der Bezugspersonen deiner Kindheit. Er findet in allem, was du tust Fehler und Mißstände. Es ist nie gut genug, selbst dann wenn du positive Veränderungen anstrebst. Viele Menschen tun sich schwer diesen Gefängniswächter zu besiegen.

Ein weiterer besteht aus narzisstischen Autoritätspersonen in deinem Leben, die die Fähigkeit haben Dinge zu verdrehen und zu verzerren. Sie verwirren und verunsichern dich, sodass du glaubst ein schrecklicher Mensch zu sein. Sie werden dir egoistische Motive unterstellen, wenn du dich entwickelst.

Der dritte Wächter besteht aus familiären Unterstützern, die glauben , dass der beste Weg in die Zufriedenheit aus Anpassung besteht. Sie greifen dich vielleicht direkt an und werfen dir vor egozentrisch zu handeln oder sie versuchen es mit subtiler Manipulation, um die Familiendynamik aufrecht zu erhalten. Genau betrachtet agieren sie aus ihren eigenen Ängsten heraus.

Schamgefühle und deren Schichten der Angst

1) die Angst verlassen zu werden: “Nein du kannst dich nicht gegen deine Familie stellen, denn wenn du sie verlierst beweist das, dass du nichts wert bist.”

2) die Angst zu versagen: “Versuche nichts Neues, denn wenn es nicht gelingt beweist du dir erneut, dass du zu nichts taugst.”

3) die Angst verletzt zu werden: “Baue zu keinem eine Bindung auf. Er wird dir weh tun, wenn er dich näher kennenlernt.”

4) die Angst, dass etwas schlimmes passieren wird

5) die Angst deine Sorgen und Nöte mit anderen zu teilen

6) die Angst davor um Hilfe zu bitten

7) die Angst davor die Gefühle anderer zu verletzen (chronische Schuld)

> Wenn du in der Kindheit dem Gaslighting einer Bezugsperson ausgesetzt warst kämpfst du vielleicht mit Schichten der Verwirrung, die dich oft an dir selbst zweifeln lassen.

> Vielleicht nimmst du aber auch Geschehnisse nicht realistisch wahr, weil du zu emotionalem Denken neigst: Dann denkt der limbische Teil deines Gehirns, dass das, was du fühlst der Wahrheit entspricht.

> Es könnte auch sein, dass du dich mit deinen unrealistischen Erwartungen auseinandersetzen mußt: Da du es gewohnt bist unrealistische Erwartungen an dich zu stellen schaffst du dir Mißerfolge, die deine Schamgefühle untermauern.

> Auch Unsicherheiten und fehlerhafte Vergleiche können dich im Heilungsprozess ausbremsen.

Schamgefühle lösen

Wie du siehst ist das Gefängnis aus chronischen Schamgefühlen hocheffektiv. Deshalb kann der Heilungsprozess auch nicht leicht und geradlinig verlaufen. Es ist ein Prozess, der Zeit und Geduld braucht. Deine gesunden Veränderungen werden zunächst unangenehme Gefühlszustände hervorbringen, was frustrierend und entmutigend sein kann, sodass Zweifel an diesem Weg aufkommen. Viele Menschen neigen dann dazu aufzugeben.

Bitte bedenke: Deine Trigger katapultieren dich in den limbischen Teil deines Gehirns. Sie erzeugen schwere Gefühlszustände und verzerrte Gedankenmuster, die nicht die Realität wiederspiegeln. Wichtig ist es, dass du lernst, dich aus diesem Zustand zu befreien. Wenn du die Verbindung zum Frontallappen deines Gehirns wieder herstellen kannst, dann kannst du dich erden und wieder realitätsbezogen handeln.

Wahrscheinlich wirst einen Mentor brauchen, der diesen Weg selbst gegangen ist, der dich auf diesem holprigen Weg voller Widerstände unterstützt, der dich an die Wahrheit erinnert, wenn du abzugleiten drohst und der dir hilft, dich auf gesunde Weise durch deine Trigger zu durchzuarbeiten, um dich nicht erneut zu traumatisieren.

Vielleicht hilft dir eine individuelle Einschätzung deiner Situation. Buche dazu gern ein Gespräch mit mir.