Realitätsverweigerung

Realitätsverweigerung (Denial) ist eine Bewältigungsstrategie derer sich viele Menschen nicht bewußt sind.

Vielleicht fallen auch dir Situationen aus deinem Leben ein, in denen du rückblickend der Realität ausgewichen bist.

Wenn du deine Wahrnehmung dafür schulst und die Hintergründe und Symptome kennst wirst du dich leichter dabei ertappen.

Dir wird auch klar werden, wie du am Besten damit umgehst, wenn du bemerkst, dass ein Mensch, der dir wichtig ist die Wahrheit verdrängt.

 Realitätsverweigerung / Definition

Wenn du dich einer herausfordernden Situation gegenüber siehst ist die gesündeste und produktivste Antwort darauf, die Situation direkt anzugehen, um Lösungen zu finden und die damit einhergehenden Gefühle zu verarbeiten. Das ist natürlich nicht unbedingt angenehm.

Es könnte dich zunächst zusätzlich stressen, wütend oder traurig machen. Aber du weißt, dass du dich der Problematik stellen und sie akurat einschätzen mußt, um sie zu lösen.

>> Unser Nervensystem will uns vor unangenehmen Gefühlen schützen und nutzt verschiedene Abwehrmechanismen, um emotionalen Schmerz zu begrenzen. <<

Realitätsverweigerung ist also eine unbewußte Form von Selbstschutz:

Eigentlich vermeidest du die Betrachtung einer Tatsache, um die daran geknüpften Gefühle zu umgehen. Vielleicht nimmst du die Realität zwar wahr, aber ignorierst die Konsequenzen, die daraus erwachsen.

Laut Dictionary of Psychology ist Realitätsverweigerung “ein Abwehrmechanismus, durch den unangenehme Gedanken, Gefühle, Wünsche oder Ereignisse ignoriert und von der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen werden”.

Komplex traumatisierte Menschen neigen besonders stark zum Ausblenden der Realität.

Sie erkennen bestimmte Geschehnisse oder Fakten nicht an, obwohl sie für andere ganz offensichtlich sind.

Es ist eine psychologische Reaktion, die sie sich in der Kindheit in einem ungesunden Umfeld aneignen mußten, um emotional zu überleben und um Ängste, Schamgefühle oder depressive Zustände in Schach zu halten, die sie sonst überfordert hätten.

Wenn wir ein Ereignis oder ein Verhalten gedanklich in einen anderen Rahmen setzen, um die Wahrnehmung der Bedeutung dessen zu verändern sprechen wir auch vom “Reframing”.

“Das Gehirn tut was es für nötig erachtet, um für’s Überleben des Individuums zu sorgen. Wenn eine belastende Situation Schmerzen verursacht wird es kreative Möglichkeiten finden, um diese Erlebnisse von ihm fernzuhalten.”  – Timothy Yen –

>> Die kurzfristige Verweigerung der Realität ist manchmal sinnvoll, um dich selbst erst einmal zu ordnen, wenn sie die Akzeptanz einer einschneidenden Veränderung im Leben von dir verlangt. <<

Langfristig spitzt sich eine Situation durch Realitätsverweigerung jedoch zwangsläufig zu. Sie führt zu noch schwerer zu bewältigenden negativen Gefühlen.

Realitätsverweigerung / Zusammenfassung

Durch Realitätsverweigerung schneiden wir externe Ereignisse von unserer bewußten Wahrnehmung ab.  Oder wir entwickeln Glaubensmuster, die der Realität widersprechen. Wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass eine Situation negative Gefühle erzeugt, dann blenden wir das Erlebte entweder in Gänze aus oder wir adoptieren eine verzerrte Wahrnehmung der Tatsachen.

>> Die Situation bleibt bestehen, aber sie verursacht keine unangenehmen Gefühle mehr. <<

Während Realitätsverweigerung also kurzfristig emotional stabilisiert, verbaut sie das Finden von Lösungen, was langfristig kompliziertere emotionale Zustände mit sich bringt.

Realitätsverweigerung / Stufen

Wie kann das konkret aussehen? Du könntest die Anerkennung der Existenz eines Problems in sich selbst, dessen Schwere, dessen Ursache oder dessen Lösbarkeit ablehnen:

“Ich habe kein Problem.” (Verweigerung der Realität)

“Ich habe ein Problem, aber es ist nicht meine Schuld.” (Anerkennung der Realität, aber Verzerrung der Auswirkungen durch Schuldzuweisung)

“Ich habe ein Problem, aber ich kann es nicht ändern. Andere sollten lernen mich so zu nehmen, wie ich bin und es mir nicht so schwer machen.” (Anerkennung der Realität, aber Verharmlosung der Auswirkungen durch Entschuldigung)

“Ich habe ein Problem, aber es ist nicht wirklich ernst und schadet keinem.” (Minimierung der Realität)

“Ich habe ein Problem, aber nur in Bezug auf meine Reizbarkeit. Der Rest meines Lebens ist gut.” (Minimierung der Realität)

>> Menschen, die zu diesen verschiedenen Stufen der Realitätsverweigerung neigen umgeben sich oft mit Menschen, die ihnen zustimmen und es ihnen gleich tun. <<

Wenn wir uns mit Menschen umgeben, die unsere verzerrte Wahrnehmung der Realität unterstützen bauen wir uns damit eine Art Support-System auf, um in unserer Verdrängung von Tatsachen “nicht gestört” zu werden.

Realitätsverweigerung / Trauma

Realitätsverweigerung spielt in Bezug auf komplexe Traumata in zweierlei Hinsicht eine tragende Rolle:

>> Die Verdrängung der Realität dient dem Kind als Überlebensstrategie. Auf der anderen Seite verursacht sie aber Bedingungen, die komplexe Traumata hervorrufen. <<

Realitätsverweigerung als Überlebensmechanismus:

Wenn emotionaler oder körperlicher Schmerz für’s Kind unerträglich wird (Kampf und Flucht sind nicht möglich), dann wird es nach mentalen Lösungen suchen, um ihn zu lindern. Das klingt dann z.B. so:

“Das ist nicht wirklich passiert.” / “Es ist nicht so schlimm.” / “Vater hatte einen schlechten Tag.” / “Ich bin selbst schuld.” / “Ich bin ein schlechtes Kind.”

Manche Kinder dissoziieren und entkoppeln sich auch von ihren Gefühlen, um dem Schmerz zu entkommen. Intuitiv spüren sie, dass das Verhalten einer Bezugsperson lieblos und ungesund ist. Auf der anderen Seite wissen sie aber auch, dass sie in Schwierigkeiten geraten würden, wenn sie darüber sprechen.

Denn schließlich beobachten sie, dass alle anderen das Problem verdrängen. Und um dazu zu gehören, akzeptiert zu werden und die eigenen Bedürfnisse befriedigt zu bekommen, sehen sich diese Kinder dazu gezwungen die Realität ebenso abzulehnen.

In einem ungesunden familiären Umfeld wird Realitätsverweigerung überlebenswichtig. Erwachsene Bezugspersonen leugnen ihre kranken Muster und andere werden für die schädlichen Familiendynamiken verantwortlich gemacht:

>> In ungesunden Familienverbänden wird die Realität oft verzerrt, indem der mißbräuchliche Elternteil beschuldigt und der co-abhängige Elternteil entschuldigt. <<

Das führt auch dazu, dass Kinder Rollen zugeordnet bekommen, über die sich die erwachsenen Bezugspersonen unbewußt emotional stabilisieren und sich ihrer Verantwortung entledigen.

Kinder lernen die Realität auszublenden, um das familiäre Narrativ nicht zu gefährden.

Wenn Eltern die Wahrheit verleugnen, dann verleugnen sie gleichzeitig die Wahrnehmung der Realität ihrer Kinder. Das nennen wir in der Psychologie Gaslighting.

Realitätsverleugnung / Folgen

Wenn Realitätsverleugnung in den formativen Jahren überlebensnotwendig war, dann brennt sich diese Bewältigungsstrategie oft tief ins Unterbewußtsein ein. Als Erwachsener wird man weiterhin dazu neigen. Realitätsverleugnung wird zum typischen Verhaltensmuster, um mit schwierigen Situationen umzugehen.

Nun verhindert die Realitätsverleugnung Problemlösungen, sie macht Heilung unmöglich und führt zu ungesunden Beziehungsdynamiken ohne Wachstumspotenzial.

Dadurch stagniert natürlich die gesamte persönliche Entwicklung.

Es ist also enorm wichtig, dass du deine Wahrnehmung dafür schulst und erkennst, wenn du versuchst eine “Abkürzung ins Glück” zu nehmen.

Realitätsverleugnung / Beispiele

Komplex traumatisierte Menschen neigen z.B. dazu:

1. ihre schmerzhafte Vergangenheit zu leugnen (“Mein Vater war streng, aber es hat mir nicht geschadet.”)

2.  schmerzhaften Gefühlen auszuweichen und “spiritual bypassing” zu betreiben (“Hab einen positiven Fokus.”).

3.  im Trauerprozess um einen geliebten Menschen in der ersten Phase der Verleugnung stecken zu bleiben

4.  psychische Probleme aufgrund des gesellschaftlichen Stigmas, das teilweise immernoch besteht, zu verdrängen und zu verleugnen

5.  Schuldgefühle zu verdrängen, indem sie bestimmte Geschehnisse ausblenden

6.  Dinge, die unangenehme Gefühle mit sich bringen würden hinauszuschieben und zu verdrängen

Und es gibt auch einen interessanten kulturellen Aspekt:

Wenn du frühzeitig verinnerlicht hast, dass Zufriedenheit von externen Umständen und Dingen abhängig ist, hast du vielleicht dein ganzes Leben dem Streben danach untergeordnet. Heute fühlst du dich dann vielleicht getrieben, gestresst, unfrei und in deinen Beziehungen nicht wirklich verbunden.

Du beginnst zu ahnen, dass das Glücks-Rezept, dass du verfolgt hast nicht aufgeht und diese Ahnung, dass du einer Lüge gefolgt bist fühlt sich natürlich auch nicht gut an.

Und wenn du schon den Horizont deines Lebens überschritten hast kann diese erschütternde Erkenntnis durchaus eine existenzielle Krise auslösen.

Um diese unangenehmen Gefühle zu vermeiden könntest du auch hier wieder die Verdrängung der Fakten wählen und einfach noch härter arbeiten und für mehr Freizeitspaß sorgen, um dir zu beweisen, dass die gesellschaftlichen Werte, die dir implementiert wurden sehr wohl ein erfülltes Leben garantieren.

Die vielen wunderbaren Dinge, die wir in unserer modernen Gesellschaft nutzen können, um uns abzulenken sind per se natrürlich nicht schlecht, aber oft müssen sie auch als Pflaster zur Realitätsverleugnung herhalten.

Denn der Gedanke, dass mehr Arbeit und mehr Vergnügen ein glückliches Leben verspricht ist nur eine weitere Lüge.

Die Angst davor zuzugeben, dass man einer Lüge auf den Leim gegangen ist und dass sich das Leben leer anfühlt verleitet dazu, die Erkenntnis, dass externe Dinge nicht glücklich machen zu verdrängen und einfach so weiter zu leben, wie bisher.

Realitätsverweigerung / Zeichen 

Ein paar Zeichen dafür, dass du vielleicht gerade die Realität verweigerst:

1. Du weigerst dich über ein Problem zu sprechen.

2. Du findest Wege dein Verhalten zu rechtfertigen.

3. Du beschuldigst andere oder äußere Umständer als Verursacher.

4. Du zeigst ein und das selbe Verhalten, obwohl es immer wieder negative Konsequenzen hat.

5. Du versprichst das Problem in der Zukunft anzugehen.

6. Du vermeidest es, überhaupt über das Problem nachzudenken.

Emotionale Zustände, die anfällig für Realitätsverweigerung machen:

1. Verlangen und Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit (Idealisierung: Dieser Mensch ist perfekt und löst alle meine Probleme.)

2. Angst verletzt zu werden (Angst vor Gefühlen)

3. Schamgefühle (Anpassung um akzeptiert zu werden)

4. Hass, Trotz und Resentment (tiefer alter ungelöster Schmerz)

Und warum bleiben Menschen in der Realitätsverweigerung stecken?

1. Wenn sich massive Schuldgefühle aufgestaut haben braucht es Mut, sich anzuschauen, auf welche Weise man anderen Schmerz zugefügt hat.

2. Wenn ich meinen Schamgefühlen ins Auge sehen will, muß ich mir auch eingestehen, wie ich mich selbst sehe. Ich schrecke davor zurück, wenn ich (noch) nicht weiß, dass chronische Schamgefühle auf Lügen basieren, die von internalisierten kritischen Stimmen aufrecht erhalten werden.

3. Auch die Angst vor Einsamkeit ist eine treibende Kraft hinter der Realitätsverweigerung: Besser von einem Menschen, der mir Schmerz zufügt etwas Zuwendung zu bekommen, als die scheinbar unendliche Qual, die ich glaube durchmachen zu müssen, wenn ich auf mich selbst gestellt bin.

4. Der Schmerz muß oft erst ein hohes Maß erreicht haben, damit ein traumatisierter Mensch die Kraft entwickelt, Widerstände zu überwinden und der Realität ins Auge zu sehen.

Realitätsverweigerung mag dir zunächst Stress ersparen. Du schiebst ihn aber vor dir her und irgendwann gelingt dir das nicht mehr.

Das Buch ist auch im tredition SHOP erhältlich (lieferbar)

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